"Wenn die Ukraine heute fällt, steht Putin morgen vor unserer Tür." So drastisch drückte es Litauens Staatspräsident Gitanas Nausėda aus, kurz nachdem Russlands Truppen in die Ukraine eingefallen waren. In Litauen gilt nun der Ausnahmezustand, in vielen Gebäuden wurden bereits Keller zu Bunkern umgerüstet. Auch in den Nachbarstaaten Estland und Lettland geht die Angst um. Zumal Wladimir Putin den Zerfall der UdSSR einst als "Tragödie" bezeichnet hat. Will er das Rad der Zeit zurückdrehen? Sollte dem so sein, stünde den baltischen Staaten tatsächlich früher oder später eine Invasion bevor – vergleichbar der, der sich die Ukraine gerade zu erwehren versucht. Die Historikerin Eva-Clarita Pettai hat viele Jahre in den baltischen Staaten gelebt und sich mit deren Geschichte befasst.
Christoph Leibold: Der große Unterschied zur Ukraine ist, dass Estland, Lettland und Litauen seit 2004 der NATO angehören. Aber auch die baltischen Länder wurden in den letzten 200 Jahren immer wieder von Russland regiert, lange vom Zaren, und im Zweiten Weltkrieg wurden sie von Stalin annektiert. Kann man sagen, dass daraus so etwas wie Traumata resultieren? Und wenn ja, wie äußern die sich?
Eva-Clarita Pettai: Traumata ist immer ein sehr starkes Wort. Aber die Erinnerung an die Übernahme der baltischen Staaten durch Stalins Sowjetunion ist allgegenwärtig in estnischen, lettischen, litauischen Familien, aber auch in öffentlichen Gedenkstätten und Gedenkfeiern. Es ist vor allem die Okkupation 1940 durch die Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts, die in jeder Schule unterrichtet wird und derer regelmäßig öffentlich gedacht wird. Die Erinnerung ist sehr wach und Ereignisse wie 2014, die Annexion der Krim, wecken sie natürlich auch immer wieder.
Und schon damals haben ja die baltischen Staaten gewarnt, wo das hinführen könnte. Hat man vielleicht im Westen zu wenig auf deren Ängste und Sorgen gehört?
Das Gefühl ist durchaus vorhanden und das sah man ja auch an den Äußerungen der baltischen Politiker kurz nach Kriegsbeginn oder auch schon davor, wo es immer wieder hieß: Hört auf uns, wir haben es euch immer schon gesagt, Putin hatte das schon lange vor. Spätestens seit 2014 hätten wir es wissen können. Wir haben euch gewarnt! Die litauische Premierministerin sagte ja sogar, sie fühle sich wie eine Schwiegermutter, die immer wiederhole: Ich hab's doch gesagt.
Lettland und Estland grenzen jeweils an Russland. Litauen grenzt an die ehemalige Sowjetrepublik Belarus sowie an die russische Exklave Kaliningrad, wo Russland eine Atom-U-Boot Flotte hat. Und in allen drei Ländern lebt eine russische Minderheit. In Litauen sind es etwa fünf Prozent der Bevölkerung, in Estland fast 30. Schauen wir auf die Zeit vor dem Ukraine-Krieg. Wie gut oder schlecht funktionierte das Zusammenleben dieser Minderheit mit dem Rest der Menschen im Baltikum?
Litauen hat eine sehr viel kleinere russische Minderheit. Insofern gab es da nie Probleme. In Lettland und auch in Estland sind ein Viertel der Bevölkerung russischstämmig. Man redet dort von den russischsprachigen Bevölkerungsteilen, denn damit sind auch Ukrainer und Belarussen gemeint und zum Teil andere ehemalige Sowjetbürger, die während der Sowjetzeit ins Baltikum gekommen sind. Die Beziehungen zwischen den Mehrheitsbevölkerungen der Letten und Esten und der russischen Bevölkerung war sehr wechselhaft in den letzten 30 Jahren. Das fing an damit, dass beide Staaten nach 1991, also nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit, diesen Menschen erst einmal die Staatsbürgerschaft nicht gaben. Sie fanden eine Regelung, dass all jene, die nach 1940 ins Land gekommen sind – nach der Übernahme der Länder durch die Sowjetunion, nach der Okkupation –, die Staatsbürgerschaft nicht automatisch bekommen sollten. Das hat mit einem Schlag sehr, sehr viele Menschen von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen und damit von politischen Rechten. Das hat große Unruhe verursacht damals und ist dann mit der Zeit etwas liberalisiert worden. Mittlerweile ist es auch nur noch eine kleine Minderheit, die keine Staatsbürgerschaft mehr hat. Aber damals haben sich eben auch viele für die russische Staatsbürgerschaft entschieden. Am meisten in Estland, etwas weniger in Lettland.
Das heißt, es wurde diesen Menschen vielleicht auch schwer gemacht, dazuzugehören, was sich jetzt womöglich als Problem erweist?
Erst kürzlich hat der Tallinner Bürgermeister Mihhail Kõlvart zu bedenken gegeben, dass die Art und Weise wie die ukrainischen Flüchtlinge heute willkommen geheißen werden, zu Unmut in der russischen Bevölkerung führen könnte, die zum Teil schon seit mehreren Generationen da ist. Es gibt also schon dieses Gefühl: Wieso habt ihr uns nicht schon viel früher mehr Hilfestellung gegeben, zum Beispiel durch Estnisch-Kurse und durch mehr Integrationsanstrengungen? Das ist eine interessante Entwicklung, und es bleibt abzuwarten, ob es zu einer weiteren Spaltung führen wird oder nicht.
Es sind auch ukrainische Flüchtlinge da, obwohl diese Länder alle keine gemeinsame Grenze zur Ukraine haben. Es gibt Flüchtlinge aus Belarus und vielleicht auch geflohene russische Oppositionelle und dazu die russische Minderheit dort. Das stelle ich mir durchaus als explosives Gemisch vor.
Erst einmal sind es einfach sehr viele Menschen. In Estland sind im Augenblick schon 22.000 Ukrainer angekommen, die zum Teil direkt aus Polen mit Bussen nach Estland gebracht wurden. Das gleiche gilt für Litauen und Lettland. Die müssen dort jetzt erst versorgt und im Land verteilt werden. Das ist eine riesengroße Herausforderung für diese kleinen Länder. Estland hat 1,3 Millionen Einwohner, Lettland 1,9 Millionen. Auf der einen Seite hat man natürlich die russische Kultur im Land, das macht die Integration leichter. Man hat russischsprachige Schulen, in Lettland und Estland zumindest, in die ukrainische Kinder leicht integriert werden können. Es muss nicht explosiv sein, aber es wird eine enorme Anstrengung kosten und natürlich auch sehr viel Geld.
Was würden sich die baltischen Staaten vielleicht wünschen vom Westen, von den NATO-Bündnispartnern, um sich sicherer zu fühlen in der jetzigen Situation?
Also ich glaube, sie bekommen im Moment eigentlich sehr, sehr viel. Sie fühlen sich wahrgenommen, sie fühlen sich gehört. Die Deutschen haben ihre Präsenz in Litauen aufgestockt, die USA schicken weiteres Gerät, und auch die Kanadier und Briten sind vor Ort. In den Medien vergeht kein Tag, an dem nicht berichtet wird, wie die NATO versucht, die Ostfront zu sichern. Man hofft und man bangt natürlich, dass die Mitgliedschaft in der NATO auch ein wirklicher Schutz ist. Erste Umfragen haben aber auch ergeben, dass die Leute sich noch relativ sicher fühlen. Und das zeigt, dass offensichtlich doch recht viel Vertrauen in die NATO vorhanden ist.
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