"In meiner schlimmsten Phase habe ich jeden Abend einen Sixpack Bier getrunken", erzählt Thomas. Als stellvertretender Abteilungsleiter habe er zwar viel Kontakt mit Kollegen gehabt, doch keiner habe ihn im Büro jemals auf sein Alkoholproblem angesprochen. Auf Selbstinitiative begann er einen Entzug. Heute trinkt Thomas keinen Tropfen Alkohol mehr.
Sucht ist ein schleichender Prozess
Thomas heißt eigentlich anders. Seine Identität hält der 55-Jährige geheim, weil seine Arbeitgeber kein Verständnis für seine Krankheit hätten. Dabei sei seine Sucht eng verknüpft mit seinem Beruf, meint er. "Nach einer Umstrukturierung im Job war ich immer mehr unter Druck, Alkohol war die Lösung." Erst nach einem Burnout, Klinikaufenthalt und auf Nachfrage einer Freundin sei ihm seine Sucht klar geworden.
Schließlich entschied sich Thomas für einen radikalen Entzug: Erst 15 Wochen stationäre Therapie, dann ein Jahr lang einmal wöchentlich – bis heute – Selbsthilfegruppe. Vor allem diese Nachsorge tut ihm gut. Seit sieben Jahren trinkt er keinen Tropfen mehr. Heute lässt er sich als betrieblicher Ansprechpartner für Sucht und Prävention ausbilden, ehrenamtlich. Seine Chefs wissen davon nichts.
DHS: 5 Prozent der Arbeitnehmer alkoholabhängig
Fast jeder zehnte bayerische Arbeitnehmer hat einen problematischen Alkoholkonsum – das berichtet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Etwa 5 Prozent der Arbeitnehmer sind demnach alkoholabhängig, bei Führungskräften sind es bis zu 10 Prozent. Doch oft bleiben Alkoholkranke am Arbeitsplatz unerkannt – obwohl sie dringend Hilfe bräuchten.
Tabu-Thema Sucht: Wie spreche ich Alkoholproblem an?
"Hinschauen statt wegschauen" fordert der Augsburger Patrick Durner, Trainer für Betriebliche Suchtprävention. Im Austausch mit Führungskräften erfahre er häufig, dass erst die persönliche Ansprache Auslöser für eine Therapie war. "Mir ist aufgefallen, dass du oft müde bist" oder "Du hast dich verändert, du kommst oft zu spät, arbeitest unzuverlässig, fehlst oft, was ist los?": So könnte man einen womöglich Betroffen bei konkreten Anlässen unter vier Augen fragen.
Kennzeichen für Alkoholsucht könnte zum Beispiel auch ein verändertes, ungepflegtes Aussehen sein. Manchmal sei die Sucht am Geruch erkennbar, wenn die Alkoholfahne mit viel Parfum, After Shave, Mundspülungen oder gar Knoblauch übertüncht werden soll, so Durner. Manchmal würden sich auch Charaktere durch Alkohol plötzlich wandeln, von introvertiert zu extrovertiert oder umgekehrt.
Berufe im Gastro-Bereich und mit Schichtarbeit gefährdet
"Wer am Arbeitsplatz ständig in Kontakt mit Alkohol ist, der ist besonders suchtgefährdet", sagt Bärbel Würdinger, Leiterin der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle beim Freisinger "Prop e.V.". Es seien weniger die Berufe als die Arbeitswelten, die Menschen suchtanfällig machen, sagt die Suchttherapeutin. "Nachtschicht oder Rufbereitschaft unterbrechen den Tag-Nacht-Rhythmus, das ist auch suchtfördernd", sagt Bärbel Würdinger.
Wer am Arbeitsplatz ständig unterfordert oder andersherum überfordert sei, der sei auch versucht, dieses Problem mit Alkohol zu verstecken. Der Schaden ist groß: Suchtbelastete Arbeitnehmer haben 16-mal häufigere Fehlzeiten und erbringen nur 75 Prozent der Arbeitsleistung, so die Angaben der Fachambulanz für Suchtprobleme der Caritas Regensburg. Bei knapp einem Drittel der Arbeitsunfälle spiele Alkohol eine Rolle.
Bier-Automaten, Brotzeit-Bier, Betriebsfeste
"Bier gilt in Bayern immer noch als Grundnahrungsmittel", bedauert Eugene O’Neill vom Kreuzbund Regensburg, einer Selbsthilfe-Initiative für Suchtkranke und Angehörige. Der trockene Alkoholiker höre immer wieder, wie selbstverständlich Alkohol auch in Firmen bereitstehe. Bierautomaten auf dem Gang sind keine Seltenheit. Zum Beispiel bei Audi, wie der Automobil-Konzern auf BR-Anfrage bestätigte.
"Das Brotzeitbier gehört für viele zur bayerischen Kultur", sagt O’Neill. Dieses Argument hört auch der Suchtexperte Patrick Durner häufig, von der Führungsebene bis hin zur unteren Mitarbeiterebene.
Betriebliche Vereinbarungen und Suchtprävention
Alkoholkonsum am Arbeitsplatz ist in Deutschland nicht pauschal verboten. Inwieweit Alkohol am Arbeitsplatz erlaubt sein darf, hängt maßgeblich mit der beruflichen Tätigkeit von Arbeitnehmern zusammen. Sobald die Arbeitssicherheit gefährdet ist, stehen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Verantwortung.
Unternehmen können ein betriebliches Alkoholverbot festlegen, durch Klauseln im Arbeitsvertrag oder in Form einer Betriebsvereinbarung. Dafür braucht der Arbeitgeber die Zustimmung des Betriebsrats. So hat zum Beispiel BMW an allen Standorten ein Alkoholverbot am Arbeitsplatz eingeführt, Mitarbeiter erhalten kostenfrei Tafelwasser. Bei Audi gilt ein absolutes Alkoholverbot für Mitarbeitende in sicherheitsrelevanten Bereichen, wie insbesondere Fahr- und Steuertätigkeiten, Wach- und Sicherheitsdienste, Werksfeuerwehr, Betriebsärzte, Sanitäter, sowie für Verantwortliche für Aus- und Weiterbildung als auch für Jugendliche.
Immer mehr Betriebe setzen auf Prävention und regelmäßige Schulungen zum Umgang mit Alkohol und Suchtmitteln. Dazu gehören auch Gesundheitsuntersuchungen, Entspannungsangebote sowie die Ausbildung betrieblicher Ansprechpartner im Suchtbereich. So stellt der BSH-Hausgeräte Konzern am Standort Dillingen für 2.600 Mitarbeiter drei Ansprechpartner zur Verfügung, die zum Teil schon eine Suchterkrankung hinter sich haben und mit Betroffenen leichter ins Gespräch kommen.
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