"Ich könnte da unzählige Geschichten erzählen", sagt Christian Fenn, Streetworker in Bad Kissingen, wenn er über Schicksale von jungen Süchtigen nachdenkt. Spontan fällt ihm eine junge Gymnasiastin ein, die anfing, Opioide zu nehmen. Daraufhin hätten ihre Leistungen in der Schule nachgelassen, sodass sie zuerst auf die Realschule und dann auf die Mittelschule wechseln musste. Schließlich sei sie ganz ohne Abschluss von der Schule gegangen.
Der Streetworker ist alarmiert: Seit der Corona-Pandemie würden immer mehr Jugendliche drogenabhängig. Nach seiner Einschätzung fehlte in Zeiten des Lockdowns das Korrektiv der Erwachsenen. Das heißt: Die Jugendlichen trafen sich trotz aller Regeln heimlich und entwickelten dadurch eine Subkultur, so der Streetworker. Durch seinen Job im Verein "Kissinger Drogenhilfe" (KIDRO) sieht er, wie sich derzeit besonders zwei Substanzklassen verbreiten: Opioide und Benzodiazepine (Benzos) – enthalten sind beide in Medikamenten.
Benzos und Opioide in verschreibungspflichtigen Medikamenten
Und genau darin liegt die große Gefahr, denn Medikamente können suggerieren, dass sie etwas völlig Harmloses sind. Man verbinde gemeinhin damit eigentlich nicht Drogen, aber die enthaltenen Opioide und Benzodiazepine seien genau das, so Christian Fenn. In der Regel sind die betreffenden Medikamente verschreibungspflichtig. Zu diesen zählen beispielsweise Hustenstiller oder Schmerzmittel.
Doch solche Medikamente sind alles andere als harmlos: Sie machen sehr schnell körperlich abhängig und können bei Überdosierung auch zum Tod führen. Nach Christian Fenns Erfahrung tritt beim Konsum dieser Substanzen häufig das Demotivationssyndrom bei Jugendlichen auf: "Sie bekommen dann einfach ihren Hintern nicht mehr richtig hoch", sagt er. Die Folge ist oft ein erheblicher Leistungsabfall. Viele kommen dann in der Schule nicht mehr richtig mit, brechen sie dann vielleicht sogar ab. "Wenn das passiert, tragen junge Leute die Konsequenzen eigentlich durch ihr ganzes Leben", warnt Christian Fenn.
Anzeichen bei starkem Opioid-Konsum: sehr enge Pupillen
Es gibt Anzeichen, dass Jugendliche diese Drogen konsumieren, so Laura Kramer, ebenfalls Streetworkerin bei der "Kissinger Drogenhilfe". Sehr starken Opioid-Konsum könne man oft an sehr kleinen Pupillen in den Augen erkennen. Es gebe auch weitere Anzeichen, doch diese seien auf viele Drogen übertragbar. Zu diesen zählten unter anderem: Das Verhältnis zu den Eltern werde immer schlechter, der Freundeskreis verändere sich und Hobbys würden fallengelassen. "Das sind aber alles nur Anzeichen und keine Beweise", betont Laura Kramer. Prinzipiell würden sich Eltern schwertun, zu erkennen, ob ihr Kind Drogen nimmt.
Medikamente werden oft illegal im Internet bestellt
Benzodiazepine werden vor allem bei Angst- oder Schlafstörungen verschrieben. Sie sind wie die Opioide nicht frei verkäuflich. Laut Christian Fenn finden Jugendliche dennoch Wege, um an diese Substanzen zu kommen. Oft würden solche verschreibungspflichtigen Medikamente illegal im Internet bestellt - bei Anbietern, die nicht nach einem Rezept fragen. Anschließend gäben die Jugendlichen die Medikamente im Freundes- oder Bekanntenkreis weiter. Manchmal belügen die jungen Konsumenten aber auch ihren Hausarzt und täuschen somit eine Krankheit vor, so der Streetworker. Dieser verschreibe dann womöglich ein Medikament mit der entsprechenden Substanz.
Benzos und Opioide werden in allen Schularten konsumiert
Neu ist laut Christian Fenn, dass nun viele Jugendliche und junge Erwachsene Benzos und Opioide einnehmen. Zuvor seien es hauptsächlich Erwachsene gewesen. Der Konsum dieser Substanzklassen komme in allen Schularten vor: Gymnasium, Real- und Mittelschule. Hauptsächlich seien jedoch Berufsschulen betroffen, weil dort die Schülerinnen und Schüler älter sind. Aber auch einige Jugendliche, die noch unter 14 Jahre alt sind, würden bereits Benzos und Opioide nehmen.
Drogenproblematik bayern- und bundesweit
Verstärkter Konsum unter Jugendlichen sei in ganz Bayern, in ganz Deutschland zu beobachten, so Christian Fenn. "Wann auch immer ich mich mit Kollegen austausche, alle erzählen das Gleiche", ergänzt er.
Das kann David Bauer bestätigen. Er ist Sozialarbeiter in München bei dem Projekt "Mindzone". Dessen Träger ist die Caritas, das bayerische Gesundheitsministerium fördert das Projekt. David Bauer geht mit seinem Team oft in Diskotheken, um über Partydrogen aufzuklären.
Knapp 30 Prozent drogenaffiner Partygänger nimmt die Substanzen
Auch David Bauer macht sich große Sorgen wegen Benzos und Opioiden. Um zu zeigen, wie stark diese Substanzklassen verbreitet sind, zitiert der Sozialarbeiter eine Studie vom Institut für Therapieforschung aus dem Jahr 2022. Dabei wurden junge drogenaffine Disco- und Clubbesucher im Alter zwischen 16 und 24 zu ihrem Drogenkonsumverhalten der letzten zwölf Monate befragt. 28 Prozent der Personen nahmen demnach benzodiazepin- bzw. opioidhaltige Medikamente. "Die Zahl finde ich erschreckend hoch", betont David Bauer.
Benzos und Opioide auch durch Popmusik beliebter
Dass Benzodiazepine und Opioide immer beliebter wurden, liege auch an der Popmusik, so Bauer. Jede subkulturelle Strömung habe oft eine eigene "Trendsubstanz". In den 90ern war es bei Rave und Techno Ecstasy. In der modernen Rap- und Hip-Hop-Musik seien es nun Benzodiazepine und Opioide. Vor allem in Songtexten würden die Substanzen verherrlicht. Der Trend entstand Ende der 90er in den USA. Dort bestehe durch die Pharmaindustrie ein viel leichterer Zugang zu solchen Medikamenten. "Ab 2017 werden die beiden Substanzklassen nach meiner Beobachtung in Deutschland vermehrt konsumiert", sagt David Bauer.
Forderung: Verstärkte Aufklärung über unterschätzte Gefahr
Wie der Bad Kissinger Streetworker Christian Fenn sieht auch David Bauer ein Hauptproblem darin, dass viele Konsumenten nicht wissen, wie gefährlich diese Stoffe sind. Aufklärung ist hier extrem wichtig. "Der Rausch ist es nicht wert, sich dafür ein ganzes Leben kaputtzumachen", warnt Bauer. "Oftmals spielen auch in der Kindheit erlebte Traumata eine Rolle, warum man dann zu Drogen greift." Es brauche mehr Ressourcen wie leicht zugängliche Therapieplätze für Jugendliche, um solche Traumata und auch andere belastende Probleme aufzuarbeiten. "Wir sollten Verantwortung übernehmen und junge Menschen nicht mit ihren Problemen alleine lassen", fordert David Bauer.
Eltern für Drogenproblematik sensibilisieren
Laura Kramer, Streetworkerin von der "Kissinger Drogenhilfe", will auch Eltern für die Drogenproblematik sensibilisieren. Sie könnten schon im Vorfeld viel tun, damit ihre Kinder nicht so schnell zu Drogen greifen. Dazu zähle zum Beispiel, dass die Familie dem Kind Rückhalt, Wertschätzung sowie Respekt gibt. Das Ziel sei es, Jugendlichen so viel Selbstbewusstsein zu vermitteln, dass sie auch einem Gruppenzwang nicht unterliegen. Das münde in den Mut, "nein" zu sagen und sich nicht zum Drogenkonsum verführen zu lassen.
Jugendsucht- und Jugenddrogenberatungsstelle in Bad Kissingen
Laut Laura Kramer und ihrem Kollegen Christian Fenn will der Landkreis Bad Kissingen nun der verstärkten Drogenproblematik etwas entgegensetzen - speziell für Jugendliche: Zum einen wird eine Jugendsuchtberatung der Caritas eröffnet. Diese finanziert der Landkreis Bad Kissingen. Dort können sich Jugendliche und ihre Angehörigen beraten lassen.
Aber es gibt auch Jugendliche, die noch kein Problembewusstsein entwickelt haben. Deswegen wird es zusätzlich eine aufsuchende Arbeit geben. Das heißt, eine Streetworkerin bzw. ein Streetworker spricht dann die jungen Drogenkonsumenten an. Dafür wird eine Jugenddrogenberatung in der "Kissinger Drogenhilfe" etabliert - ebenfalls vom Landkreis Bad Kissingen finanziert. Die Jugenddrogenberatung und die Jugendsuchtberatung sollen gleichzeitig im Laufe des Jahres eröffnet werden. Laura Kramer und ihr Kollege Christian Fenn wünschen sich, dass noch mehr Regionen Bayerns solche Beratungsstellen extra für Jugendliche bekommen.
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