Neben einem Haltestellenschild stehen eine Bank und eine Telefonzelle.
Bildrechte: BR24 / Christian Schiele

Die Haltestelle ist im Retro-Look gehalten. Das soll die Demenzkranken an frühere Zeiten erinnern.

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Eine Bushaltestelle, an der nie ein Bus hält

Weil unsere Gesellschaft immer älter wird, gibt es auch immer mehr Demenzkranke. Die sehen die Welt etwas anders - und laufen auch gerne mal weg. Das Fritz-Rupprecht-Heim in Fürth hat eine eigene Methode entwickelt, um die Bewohner davon abzuhalten.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Zeit für Bayern am .

Direkt vor dem Haupteingang des Fritz-Rupprecht-Heims in Fürth steht ein nostalgisches Schild: ein großes grünes H auf gelbem Hintergrund. Darunter hängt ein etwas vergilbter Fahrplan. Dahinter stehen eine Sitzbank, von der die himmelblaue Farbe bereits abblättert und eine gelbe Telefonzelle. Diese Bushaltestelle fällt auf, auch dem heute 91-jährigen Bewohner Werner Finkler. Er habe sich früher, als er eingezogen sei, schon gewundert, wie der Bus da um die Ecke kommen wolle. "Aber ich habe zu meiner Frau gesagt, da geht wenigstens der Bus, dann können wir mit dem Bus fahren", so Winkler. Aber er habe dann schon schnell kapiert, dass das nicht geht.

Menschen mit Demenz laufen gerne weg

Denn diese Haltestelle ist keine gewöhnliche. Und das hat mit einer Schwierigkeit zu tun, mit der viele Pflegeheime kämpfen, in denen Menschen mit Demenz leben: weglaufende Bewohner und Bewohnerinnen. Waltraut Weißfloch, die Qualitätsbeauftragte des Heims, erinnert sich noch sehr gut an einen solchen Fall. Eine Dame, die nach dem Kaffeetrinken loszog und nicht mehr zurückkehrte. Die Polizei musste verständigt werden, es gab eine groß angelegte Suchaktion.

Gefunden wurde die Bewohnerin aber erst am nächsten Tag von Passanten. Hätte es die Bushaltestelle damals schon gegeben, wäre all das wohl nicht passiert. "Dann wäre sie wahrscheinlich rausgegangen, hätte sich auf die Bank gesetzt und auf den Bus gewartet. Und wir hätten sie sitzen sehen und wieder aufs Zimmer bringen können", sagt Weißfloch.

Haltestelle ist Attrappe

Denn der Clou an der Haltestelle direkt vor dem Haupteingang des Fritz-Rupprecht-Heims ist, dass dort nie ein Bus fährt. Die Haltestelle ist eine Attrappe; dort aufgestellt vom Heim selbst, um Menschen, die weglaufen möchten, in der Nähe zu halten – dort, wo man sie leicht wiederfinden kann. Das funktioniert so: Menschen mit Demenz wollen oft weg aus dem Heim und "nach Hause". Sie meinen damit ihre alte Wohnung oder ihr altes Haus, in dem sie längst nicht mehr wohnen.

Wenn sie dann das Gebäude verlassen und die Bushaltestelle sehen, wirkt das für sie wie ein guter Plan: Mit dem Bus nach Hause zu fahren. Sie setzen sich und warten. "In der Zwischenzeit vergessen sie aber, dass sie auf einen Bus warten, es kommt jemand von uns vorbei, wir verwickeln sie in ein Gespräch, nehmen sie an der Hand, gehen ein bisschen mit ihnen spazieren – und schon ist der Drang, mit dem Bus wegfahren zu wollen, weg", sagt Christine Hammer. Sie leitet des Demenzzentrum des Hauses.

Die Haltestellen-Attrappe gibt es nun schon seit 14 Jahren. Das Konzept war damals relativ neu. Inzwischen haben verschiedene Pflegeheime solche Scheinhaltestellen installiert. Dass sie in Retro-Optik gestaltet ist, sei kein Zufall und auch wichtig, sagt Heimleiter Stefan Siemens. So werde die Bushaltestelle aus der Jugend, der Schulzeit oder aus dem Arbeitsleben von früher wiedererkannt.

Kritik an der Scheinbushaltestelle

Die Scheinbushaltestelle kann also helfen, die Problematik zu lösen – mit minimaler Gefahr für die Bewohnerinnen und Bewohner und auch mit wenig Arbeit für das Personal. Aber sie ist umstritten. Menschen mit Demenz, die im Heim wohnen, sind verwirrt. Und mit der Haltestelle gaukeln ihnen die Heimverantwortlichen vor, sie hätten die Möglichkeit, selbstbestimmt dorthin zu fahren, wohin sie möchten. Genau deshalb gibt es auch Kritik am Konzept der Scheinhaltestelle. Wegen der Lüge, die die Attrappe darstellt - und weil durch das Warten ohne Ende und letztlich ohne Zweck die dementen Menschen noch nervöser werden können, sagen die Kritiker.

Leiterin Hammer sieht das anders. Würde sie den Bewohnerinnen und Bewohnern die Wahrheit sagen, nämlich, dass sie doch gar kein anderes Zuhause als das Heim mehr haben, dann reagierten diese mit Wut. Sie hätten dann das Gefühl: Die wollen mich jetzt hier festhalten. Das will ich nicht! Demenzerkrankte bräuchten vielmehr Sicherheit. Und man dürfe ihnen durchaus ihre Sicht der Dinge lassen.

Die Alternative: alle Heimbewohner einsperren

Es gäbe da noch ein anderes Mittel, um das Weglaufen zu verhindern: alle 206 Heimbewohnerinnen und -bewohner in einer geschlossenen Station unterzubringen. Das kann sich Heimleiter Siemens aber nicht vorstellen. Für die fortgeschrittenen Demenz-Fälle hat das Fritz-Rupprecht-Heim mittlerweile ein eigenes Demenzzentrum eingerichtet. Insgesamt 57 Heimbewohner können sich dort auf drei Etagen, in großen Aufenthaltsräumen und in einem großen Garten, frei bewegen. Aber durch den Haupteingang nach draußen kommen sie nicht mehr. Die Tür schließt automatisch, sobald sich ihr ein Bewohner nähert.

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