Der Regensburger Stadtarchivar Lorenz Baibl hat auf einem Tisch Fotos, Briefe, Dokumente und Geschäftsunterlagen der Familie Brandis ausgebreitet, die in einem alten Lederkoffer lagen. Den Koffer hatte die jüdische Familie ihrer früheren Mitarbeiterin Fanny Hartl aus Hauzenberg, mit der sie auch befreundet war, anvertraut. Die Familie Brandis überlebte den Holocaust nicht.
"Koffer ist wie ein Lottogewinn"
80 Jahre lang war der Koffer jetzt im Besitz der Familie von Jutta Koller. Sie hat ihn heute Lorenz Baibl, dem Leiter des Stadtarchivs, übergeben. "Der Koffer ist wie ein Lottogewinn für das Stadtarchiv", schwärmt Baibl. "Von so einem Fund träumt ein Archivar. Über so eine Überlieferung, so ein persönliches Archiv einer jüdischen Familie aus dem 20. Jahrhundert verfügt das Stadtarchiv bislang nicht."
- Reportagen und Hintergründe: Bayern 2 - Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
In den Tod deportiert – der Koffer blieb in Hauzenberg
Am 4. April 1942 wurde die Familie Brandis aus Regensburg mit ihren vier Kindern und Oma Gisela Holzinger in das Ghetto Piaski bei Lublin deportiert. Jutta Koller, bei deren Familie der Koffer jetzt über 80 Jahre lang war, kennt die Geschichte der Familie. Sie hat noch gemeinsam mit ihrer Tante Fanny Hartl ein Geschäft im niederbayerischen Hauzenberg geführt. Und einige Male kam Ernst Holzinger aus Israel zu Besuch, ein Neffe der Familie Brandis, der genauso wie seine beiden Schwestern noch emigrieren konnte.
Weil Jutta Koller um die Geschichte und die Bedeutung der Dokumente wusste, kam der Koffer auch nie weg. Immer wieder hat die Familie überlegt, was sie damit tun solle. Im Stadtarchiv Regensburg ist er nun gut aufgehoben, davon ist Jutta Koller überzeugt.
Im Koffer: Postkarten, Briefe und Hilferuf
In dem Koffer liegt ein handschriftlicher Stammbaum der Familie Salomon – Oma Gisela Holzinger war eine gebürtige Salomon. Da sind liebevolle Postkarten von "Omama" Gisela Holzinger an ihre Enkel aus dem Jahr 1932. Zehn Jahre später war alles anders. Am 4. April 1942 wurde das Ehepaar Brandis mit seinen vier Kindern und Gisela Holzinger nach Piaski deportiert. Der Opa, Kommerzienrat Emil Holzinger, war bereits 1932 gestorben. Die Familie schrieb dann nach der Deportation aus dem Ghetto zurück.
In dem Koffer liegt auch eine Postkarte, handschriftlich, gut leserlich. Darauf zu lesen: Mutter Alice Brandis bittet am 13. April 1942 Fanny Hartl um Hilfe.
"Liebes Fannerl, Du wirst von Onkel Ottl gehört haben, dass wir in Piaski einquartiert sind. Es geht uns soweit ganz gut, nur meine Mutter hat wieder eine Rippenfellentzündung. Es ist immer recht kalt und windig. Wenn Du uns öfters eingeschriebene Päckchen mit zusätzlichen Esswaren senden würdest, wären wir Dir sehr dankbar. Zu deinem Geburtstag am 17. alles Gute! Stets Deine Alice Brandis." Brief aus dem Ghetto
Es fehlt an allem, wie aus diesem kleinen Stück karierten Papier hervorgeht.
"Sehr erwünscht wären Zahnkrem, Unterwäsche, Hemden, dünne Kleider für mich und Lotte. Brot legt keines mehr ein, es ist völlig verschimmelt […] Vergiss bitte nicht Seife, Tee, Stopfgarn, Strümpfe möglichst fest, Schürzen, nichts Kostbares, nur derbe Sache, keinen Süsstoff und nicht Margarine, die nie ankommt. Grüße alle herzlichst von uns und sei umarmt!" Brief aus dem Ghetto
Fotos aus dem Koffer zeigen die Brandis-Kinder
Unter den vielen Fotos, die sich im Koffer finden, sind die Porträts von vier Kindern, aufgenommen in einem Regensburger Foto-Atelier. Zu sehen sind drei Buben, eindeutig die drei Söhne der Familie. Das vierte porträtierte Kind, im Grunde schon eine junge Frau, ist vermutlich die Tochter der Familie, Charlotte Brandis. Von ihr gab es bislang kein Foto. In dem Koffer sind gleich mehrere Aufnahmen von ihr.
Der Historiker Michael Wabra hat keinen Zweifel: "Das ist Charlotte!" Ihr Schicksal liegt ihm sehr am Herzen. Er hat als Lehrer am Von-Müller-Gymnasium das Schicksal von Charlotte Brandis erforscht, die als Jüdin die Schule in der NS-Zeit verlassen musste. Michael Wabra hat in einer Publikation zu den jüdischen Schülerinnen des Gymnasiums ihr Schicksal aufgearbeitet.
- Zum Artikel: Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus
Emigration in die USA gescheitert
Nach der Befreiung wurde das Unfassbare bald Gewissheit. Die Familie Brandis zögerte lange auszuwandern, zu lange. Offenbar versuchte Hedi Rossmann, eine Freundin von Alice Brandis, noch 1941 die Familie in die USA zu holen. In einem Brief, der ebenfalls in diesem Koffer liegt, schreibt Hedi Rossmann 1947 an Fanny Hartl.
"Nach langen Mühen war es mir gelungen, eine Bürgschaft für alle Brandis aufzutreiben – man findet nicht leicht jemand, der für sechs Personen gutsteht, dass sie dem Staat nicht zur Last fallen werden. Es war aber leider zu spät – der Krieg kam, die Verbindung war abgeschnitten. Mir war es auch eine Hoffnung gewesen, dass man vielleicht durch irgendein Wunder wenigstens von diesen lieben, so herzensguten Menschen etwas hören würde – aber nun ist so viel Zeit verstrichen, dass man wohl die Hoffnung aufgeben muss." Brief von Hedi Rossmann
Auch bei den Verwandten der Familie Brandis ist die Hoffnung auf ein Wiedersehern bald geschwunden. 1947 schrieb Neffe Ernst Holzinger, der mit seinen beiden Schwestern noch emigrieren konnte, aus Tel Aviv an Fanny Hartl nach Hauzenberg.
"Über die Familie Brandis haben wir leider nie mehr wieder etwas gehört und die Hoffnungen sind geschwunden, denn jeder Gerettete hat einen Weg gefunden, sich irgendwo zu melden. Es ist eine sehr traurige Angelegenheit. Lotte wäre jetzt 21 Jahre alt, was für eine Pracht von einem Mädel. Wir dürfen alle nicht daran denken." Brief von Neffe Ernst Holzinger
Schülerinnen und Schüler lernen anhand des Koffers
Ernst Holzinger hat Fanny Hartl nach dem Krieg ein paarmal in Niederbayern besucht, aber den Koffer hat er nie mitgenommen. Jetzt hat Jutta Koller den Koffer dem Regensburger Stadtarchiv übergeben. Die Koffer und die Dokumente der Familie Brandis sind gerade wichtig für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern, erklärt Baibl.
Auch Ilse Danziger, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, betont, dass diese Dokumente das Schicksal einer Familie sehr anschaulich machen kann. Der Koffer würde sich als Ausstellungsobjekt eignen, sollte es einmal in Regensburg eine Ausstellung zur NS-Zeit geben, so Ilse Danziger. "Zeit werden würde es, denke ich!"
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!