14 Jahre lang galt die Explosion in der Nürnberger Scheurlstraße als ungelöster Fall, dann brachte eine Aussage im NSU-Prozess die Ermittlungen wieder in Gang. Carsten S., mutmaßlicher Unterstützer und Ex-Neonazi, sagte aus, die Bombe gehe ebenfalls auf das Konto des "Nationalsozialistischen Untergrunds", das sei der erste Anschlag gewesen. Das Opfer, der türkischstämmige Mehmet O., hatte Splitter im Arm und zahlreiche Schnittwunden davongetragen. Der Inhaber der Pilsbar Sonnenschein überlebte nur, da der Sprengsatz nicht richtig zündete, wie Beamte des LKA-Sprengstoff-Dezernats in ihrem Bericht 1999 festhielten. Nach der Explosion ermittelten die Beamten gegen das Opfer Mehmet O. und seine Familie. Später sollten Menschen ihr Leben lassen.
Opfer erkannte Person aus dem NSU-Umfeld
Nachdem bekannt wurde, dass die Detonation wohl der erste Anschlag des NSU war, vernahmen Beamte des Bundeskriminalamts Mehmet O. im Juni 2013 erneut. 115 Bilder von Beschuldigten und Verdächtigen im NSU-Verfahren wurden dem ehemaligen Wirt vorgelegt und beim Foto einer Frau blieb er hängen. "Die geht mir nicht mehr aus dem Kopf, die kenne ich", sagte er in der Zeugenvernehmung, die dem Rechercheteam exklusiv vorliegt. Und die Ermittler notierten umgehend, wen der türkischstämmige Mann da identifiziert hatte: Susann E., eine überzeugte Nationalsozialistin aus dem sächsischen Zwickau – eine enge Freundin von Beate Zschäpe, vielleicht sogar ihre beste und wichtigste.
Pilsbar-Betreiber: "Ich habe sie irgendwo gesehen"
Mehmet O. wusste bei der Vernehmung nicht, wen er da identifizierte. "Die Beamten haben gemeint, bis die Sache geklärt wird, bitte nicht mit den Medien reden, nicht, dass unsere Ermittlungen kaputt gehen. Sie haben gesagt, sie melden sich wieder." Gemeldet haben sich die Beamten nicht mehr. Es ist nun das erste Mal, dass Mehmet O. mit Journalisten spricht. Erst durch das Rechercheteam erfährt der 38-Jährige, dass er Susann E. identifiziert hatte. Mit diesen Erkenntnissen konfrontiert, zeigt er sich erschüttert, dass sich die Ermittler offenbar nicht sonderlich für die Frau aus Zwickau interessieren. Doch woher kannte Mehmet O. das Gesicht einer überzeugten Rechtsextremistin? "Ich habe sie irgendwo gesehen, von irgendwoher kenne ich die. Vielleicht haben wir auch zusammengehockt, das kann auch sein, habe ich gesagt. Vielleicht war sie in meinem Laden drinnen, das kann auch sein. Aber irgendwo ist sie mir bekannt, ich sage das ja nicht umsonst", erklärte der ehemalige Betreiber der Pilsbar.
Wer ist Susann E.?
Seit Januar 2012 ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen Susann E. wegen Unterstützung der Terrorvereinigung NSU. Ihr wird vorgeworfen, die Tarnung des NSU-Kerntrios im Untergrund aufrecht erhalten zu haben. Laut Ermittlungen hat sie der Angeklagten Beate Zschäpe bei mehreren Gelegenheiten ihre Personalien zur Verfügung gestellt, damit diese nicht enttarnt wird. Beispielweise nutzte Zschäpe mehrere Bahncards, die auf Susann E. ausgestellt waren. Wie eng das Verhältnis zwischen Susann E. und Zschäpe offensichtlich war, zeigen gemeinsame Fotos, die Ermittler im Bauschutt des NSU-Verstecks in Zwickau fanden. Auf den Bildern, die dem Rechercheteam vorliegen, sind eine lächelnde Beate Zschäpe und Susann E. zu sehen. Zudem besuchte Susann E. das NSU-Kerntrio regelmäßig mit ihren Kindern im Zwickauer NSU-Unterschlupf.
"Nationalsozialist mit Haut und Haaren"
Verheiratet ist die 37-Jährige mit André E., über den sein Rechtsanwalt sagt, er sei ein "überzeugter Nationalsozialist, mit Haut und Haaren". Das zu leugnen wäre auch ziemlich aussichtslos, denn auf seinen Bauch hat sich der untersetzte 38-Jährige "Die jew, die" („Stirb, Jude, stirb“) tätowieren lassen. Andre E. gilt als wichtigster Unterstützer des NSU-Kerntrios, mietete offensichtlich schon 1999 eine Wohnung für das Trio an. Als Beate Zschäpe nach dem missglückten Banküberfall in Eisenach und den Suiziden von Mundlos und Böhnhardt im November 2011 mehrere Tage durch Deutschland vor der Polizei floh, nahm sie Kontakt mit Andre E. auf. Als sich Zschäpe stellte, trug sie Kleidung seiner Ehefrau. Die Ermittler gehen davon aus, dass das Ehepaar E. Zschäpe nach dem Auffliegen des NSU mit frischen Sachen ausgestattet hat.
Aussage vor Gericht verweigert
Nachdem Andre E. Ende 2011 von der Spezialeinheit GSG 9 festgenommen wurde, saß er einige Zeit lang in Untersuchungshaft, kam dann aber frei und konnte den Gerichtssaal nach den Verhandlungstagen als freier Mann verlassen. Weil er dem Gericht zufolge aber mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen hat und eine Flucht daher nicht unwahrscheinlich sei, wurde er im vergangenen September in Untersuchungshaft genommen. Seitdem wartet er im Gefängnis auf das Urteil. Oft bei den Verhandlungen dabei: seine Frau, die im Prozess ebenfalls als Zeugin vorgeladen wurde, die Aussage jedoch verweigerte.
Nürnberger Kartenmaterial auf Computer
Im April 2013 durchsucht das BKA erneut die Wohnung der Familie E. Die Ermittler fanden eine aufwendige Kohlezeichnung in einem braunen Rahmen. Lächelnd abgebildet: Die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die Zeichnung trägt den Schriftzug "Unvergessen" und ist mit einer in der Neonazi-Szene beliebten Todesrune unterlegt. Die Ermittler konnten auf dem Computer der Familie E. auch Ausschnitte eines Nürnberger Stadtplanes sicherstellen. Die Karten zeigen die Stadtteile Laufamholz, Erlenstegen und Mögeldorf. Abgespeichert wurden diese laut Ermittlungsakte im April 2001, also kurz nach dem ersten Mord an Enver Şimşek und wenige Wochen vor dem zweiten Mord an Abdurrahim Özüdoğru. Beide Opfer starben in Nürnberg.
Anwalt Daimagüler fordert weitere Ermittlungen
Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler vertritt im Münchner NSU-Prozess Hinterbliebene von mehreren NSU-Opfern. Er glaubt, dass der NSU nicht aus einem Trio bestand: "Es gibt vielmehr ein größeres Netzwerk und dieses hat auch dabei geholfen, die Opfer auszusuchen. Auch unter diesem Aspekt glaube ich, dass hier jetzt ernsthaft weiter ermittelt werden muss."
Opfer hofft auf Aufklärung
Mehmet O. hofft unterdessen, dass der Anschlag auf seine Person endlich aufgeklärt wird. Noch Jahre nach der Detonation litt er unter Angstzuständen, nahm Medikamente zur Beruhigung. "Aber ich bin froh, dass ich überhaupt lebe. Weil ich habe viel gelitten dadurch, ich habe viel verloren", sagte er dem Rechercheteam von BR und NN. Schon vor Jahren ist er aus Nürnberg weggezogen. Ob der Fall des ersten NSU-Anschlags jedoch juristisch aufgearbeitet wird, ist weiter fraglich. Die Bundesanwaltschaft verzichtete schon im Mai 2015 aus "verfahrensökonomischen Gründen" darauf, die Tat im NSU-Prozess anzuklagen.