Das Pogrom-Gedenken in Würzburg fand am Standort der ehemaligen Hauptsynagoge statt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatten Nationalsozialisten das Gotteshaus verwüstet. Eine weitere Synagoge im Stadtteil Heidingsfeld wurde ein Opfer der Flammen. Geschäfte und Wohnungen von jüdischen Mitbürgern wurden demoliert, vier Juden wurden in Würzburg getötet.
Schuster: "Von 'Nie wieder!' zu 'Schon wieder!'"
320 Menschen kamen am Mittwochabend, um der jüdischen Opfer des NS-Terrors vor 85 Jahren zu gedenken. In seiner Rede erinnerte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, an den Pogrom. Die Zerstörung von jüdischem Leben in ganz Deutschland habe an diesem Tag begonnen: "Es war der Tag, an dem sich die Tore von Auschwitz öffneten."
Doch "zum großen Schrecken" aller Juden in Deutschland sei es auch eine Realität der letzten Wochen, dass wieder jüdische Gemeinden und Geschäfte angegriffen würden. "Das Versprechen von 'Nie wieder!' wandelte sich vor unseren Augen in 'Schon wieder!'", so der Würzburger.
"Große Wut" auf antiisraelische Demonstrationen
Zwar sei die Gesellschaft als Ganzes wesentlich wehrhafter gegen den Hass heutiger Faschisten. Allerdings erfülle es Schuster mit "großer Wut", dass es "Elemente in unserer Gesellschaft gibt, die die brutale Ermordung von 1.300 Jüdinnen und Juden auf deutschen Straßen nicht nur gutheißen, sondern sogar feiern. Wer Terror bejubelt, hat aus der Geschichte nichts gelernt und hier unsere Gesellschaft ehrlicherweise nichts verloren!"
Der Präsident des Zentralrats der Juden betonte, er sei zudem schockiert, wie oft man bei der Erwähnung "des blutigsten Tages für Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust ein lakonisches 'Ja, aber'" höre. Einige versuchten, die Gräueltat der Hamas offenbar zu relativieren: "Die Idee, dass es einen Kontext geben könnte, welcher ein Massaker, bei dem unter anderem 40 Babys geköpft wurden, irgendwie relativiert oder gar rechtfertigt, ist nichts weiter als eine moralische Bankrotterklärung."
Zentralratspräsident: "Große Bedrohung für Demokratie und Freiheit"
In diesem Zusammenhang warnte Schuster vor dem aufflammenden Judenhass in Deutschland: "Der Kampf wider den neuen Antisemitismus heute ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil Antisemiten, egal ob religiös oder politisch motiviert, aus dem rechten oder dem linken Spektrum, es nie beim Antisemitismus bewenden lassen. Es war nie wichtiger, Zivilcourage zu zeigen als heute. (...) Es war nie wichtiger, überzeugt für unsere Demokratie und unsere Freiheit einzustehen. Sie waren schon lange nicht mehr einer solch großen Bedrohung ausgesetzt."
Schuchardt: "Kampf gegen Antisemitismus oberstes Staatsziel"
"Während wir wie heute zusammenkommen, fürchten mitten in Deutschland wieder Jüdinnen und Juden um ihre Sicherheit. Das kann, das darf nicht sein", betonte Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt (CDU) in seiner anschließenden Rede. Der Schutz jüdischen Lebens und die Bekämpfung von Antisemitismus müssten oberstes Staatsziel sein. Dazu trage Deutschland eine "immerwährende Verantwortung, die uns an Tagen wie heute besonders eindringlich und besonders schmerzlich bewusst" werde: Was mit Hetze und Diskriminierung begann und in der Pogromnacht dem blanken Terror überging, endete in einem Massenmord", so Schuchardt.
Dass das jüdische Leben wieder ein "fester und wertvoller Bestandteil" Würzburg sei, erfülle ihn mit "großer Demut und tiefer Dankbarkeit". Schuchardt fügte hinzu: "Mir ist schmerzlich bewusst, dass in Teilen der Bevölkerung unsägliche Dinge offen wieder sag- und machbar geworden sind. Aber es ist nicht zu spät, Haltung zu bekennen. Es ist nicht zu spät, für Demokratie und Menschenrechte einzustehen. Und es ist nicht zu spät, wann immer es geht, Zeichen zu setzen."
Lange: "Gesetze anpassen und Bildung stärken"
Im Kampf gegen den Antisemitismus sieht Unterfrankens Regierungs-Vizepräsident Joachim Lange unter anderem den Rechtsstaat in der Pflicht. Im Fall von Angriffen auf jüdisches Leben in Deutschland müssten Strafverfolgungsbehörden entschieden einschreiten. "Gegebenenfalls müssen dazu auch Gesetze angepasst werden. Dies kann einen Beitrag dazu leisten, dass sich Jüdinnen und Juden wieder sicherer in Deutschland fühlen." Es gelte aber auch, an den Wurzeln des Antisemitismus anzusetzen, etwa über eine weiterhin aktive Erinnerungskultur. Bildungsarbeit könne einen wesentlichen Beitrag im Kampf gegen den Antisemitismus leisten, betonte der Vertreter der Regierung von Unterfranken: "Denn, wenn ich sie, sehr geehrter Herr Präsident Doktor Schuster, zitieren darf: Niemand wird als Antisemit geboren."
Nach einem abschließenden Gebet des Würzburger Rabbiners Shlomo Avrasin für die Opfer des Pogroms von 1938 und des Hamas-Angriffs bedankte sich Josef Schuster noch bei den rund 320 anwesenden Würzburgern: "Die große Beteiligung ist für mich und die jüdische Gemeinde ein sehr hoffnungsvolles Zeichen."
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