Lorenz Schnatterer hat viel zu tun. Eigentlich arbeitet der 56-Jährige Vollzeit für einen Werkzeugmaschinenbaukonzern. Seit der Verhaftung des ersten, hauptamtlichen Bürgermeisters im Januar 2023 führt er jetzt nebenher die Amtsgeschäfte im Seeger Rathaus als ehrenamtlicher, zweiter Bürgermeister. "Da geht viel Freizeit drauf", sagt er nüchtern. Die Lage habe sich aber eingespielt, im Rathaus könnten sie "alles ganz gut abwickeln und in Bahnen lenken". Im Ort aber sind viele Menschen unglücklich über die Entwicklungen. Die Leute sehnten sich nach Normalität, beschreibt Lorenz Schnatterer die Stimmungslage.
Hängepartie im Ort
Seit mehr als eineinhalb Jahren sitzt der Erste Bürgermeister von Seeg, Markus Berktold (CSU), in Untersuchungshaft. Im Januar verurteilte ihn das Landgericht Nürnberg-Fürth zu einer Gefängnisstrafe von fünfeinhalb Jahren. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Bürgermeister zusammen mit dem Leiter eines Pflegediensts in Seeg Coronahilfen in Höhe von rund zwei Millionen Euro unrechtmäßig abgerechnet hat. Außerdem soll der Bürgermeister mehr als eine Million Euro bei der Betreibergesellschaft des Seeger Seniorenheims und dem Trägerverein veruntreut haben.
Doch das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) im Revisionsverfahren steht aus. Neuwahlen in Seeg sind damit derzeit unmöglich. Schnatterer muss bis auf Weiteres die Amtsgeschäfte führen. Viele im Ort würden gern einen "Schlussstrich ziehen", sagt er. Und: "einen neuen Bürgermeister wählen".
User: Bekommt er in U-Haft weiterhin Gehalt als Bürgermeister?
💬 BR24-User wie "micky123" und "Stimme" haben in den Kommentaren nach dem Gehalt für den Bürgermeister in U-Haft gefragt. Das Team von "Dein Argument" hat ergänzt:
Was Schnatterer und viele im Ort ärgert, ist die Tatsache, dass die Gemeinde ihrem Bürgermeister auch nach seiner Verhaftung sein Gehalt unter Vorbehalt weiter in voller Höhe zahlen musste. Erst jetzt im September wurden die Bezüge durch die Landesanwaltschaft um 50 Prozent gekürzt. Im Falle einer Verurteilung müsste der Bürgermeister das Geld zwar zurückzahlen. Sein Stellvertreter glaubt aber nicht, dass es dazu kommt: "Wir haben da über 200.000 Euro in der Summe mit Nebenkosten an Gehalt reingebuttert. Und wer weiß, ob wir das jemals wieder zurückkriegen", so Schnatterer. "Und auf der anderen Seite müssen wir eben Projekte zurückstellen oder verschieben, weil wir halt im Haushalt die Gelder so nicht zur Verfügung haben. Und das ärgert gewaltig." 💬
Verlust des Amtes sowieso wahrscheinlich
Dabei scheint der Verlust des Amtes für den ersten Bürgermeister schon jetzt sehr wahrscheinlich: Berktolds Verteidiger, der Anwalt Robert Chasklowicz, hatte im Januar bei seinem Plädoyer am Landgericht selbst zweieinhalb Jahre Haft für seinen Mandanten gefordert. Schon bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Strafe von mehr als einem Jahr würde der Bürgermeister sein Amt per Gesetz automatisch verlieren.
Trotzdem lehnen er und sein Anwalt einen vorzeitigen Rücktritt weiterhin ab. Im BR-Interview machte Chasklowicz klar, dass zunächst ein rechtskräftiges Urteil vorliegen müsse. Das gelte es abzuwarten.
Spezielle Situation sorgt für Unverständnis
Im Ort selbst sorgt diese Situation bei zahlreichen Bürgerinnern und Bürgern für Unverständnis – zumal ein parallellaufendes Disziplinarverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens ruht. Wegen der Schwere der Vorwürfe hatte die Landesanwaltschaft Bayern als zuständige Disziplinarbehörde Berktold bereits vor einem Jahr vorläufig seines Amtes enthoben.
Die Münchener Rechtsanwältin und Beamtenrechtsexpertin Anke Jung sieht darin das normale und vorgeschriebene Vorgehen. Sie erläutert, die Disziplinarbehörde müsse warten, bis das Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Die Landesanwaltschaft habe da keinen Ermessensspielraum, sagt Jung.
Rechtslage macht Seeger Fall übertragbar
Das heißt: Es gibt im Seeger Fall auch nicht die Möglichkeit, dass die Landesanwaltschaft eine mögliche Amtsenthebung weiter vorantreibt. Die Behörde muss auf den Ausgang des Strafverfahrens warten – und das eben bis zur letzten Instanz.
Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt für den Ersten Bürgermeister die Unschuldsvermutung. Der Gemeinde Seeg und ihrem Zweiten Bürgermeister bleibt also nichts anderes übrig, als weiter zu warten – und auf eine baldige Entscheidung des BGH zu hoffen.
Laut einem Sprecher des Bundesgerichtshofs kann das aber noch Monate dauern. Im schlimmsten Fall droht in Seeg also noch eine längere Hängepartie. Es ist eine Situation, in die theoretisch jede Gemeinde in Bayern geraten könnte.
Mehr zu diesem Thema hörten Sie am 25.9. um 12:17 Uhr in der Sendung Funkstreifzug im Radioprogramm von BR24. Sie finden die Sendung schon jetzt im Funkstreifzug-Podcast in der ARD Audiothek.
Dieser Artikel ist erstmals am 25.9.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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