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In Barta’a ruft der Muezzin zum Mittagsgebet. Die Moschee steht im Westteil der Stadt – und damit in Israel. Etwa 100 Meter östlich von der Moschee steht mitten auf der Straße ein ausgeblichenes Schild. Gäbe es das nicht, würde man die Grenze nicht erkennen, die hier zwischen Israel und dem Westjordanland verläuft. Der Kiosk von Bhassem Kabaha liegt direkt hinter dieser Grenze, in Ost-Barta’a und damit im Westjordanland. In dem Dorf mit etwa 10.000 Einwohnern können ein paar Meter entscheidend sein. Bhassem Kabaha hat einen grünen, palästinensischen Ausweis. In Corona-Zeiten wird das zum Problem. Nein, sagt der Mann, er habe noch keine Impfung gegen das Virus erhalten.
"Vor einer Woche habe ich es auf der israelischen Seite versucht. Da haben sie mir gesagt, dass sie den Menschen dort schon die zweite Impfdosis verabreichen und für mich nichts mehr übrig ist." Bhassem Kabaha, Palästinenser
Die Menschen auf der westlichen Seite des Dorfes sind arabische, manche sagen auch: palästinensische Israelis. Sie haben blaue, israelische Ausweise und von ihnen sind bereits 95 Prozent der über 16-Jährigen geimpft. Im Ost-Teil des Dorfes leben Palästinenser mit grünen Ausweisen. Wie viele hier geimpft sind, kann keiner genau sagen. Mehr als 20 Prozent sind es aber wohl nicht. Die Trennung in Barta’a hat historische Gründe: Nach dem Krieg von 1948 einigten sich Israel und Jordanien auf eine Waffenstillstandslinie. Sie verläuft bis heute genau durch Barta’a. 1967, im Sechstagekrieg, eroberte Israel das Westjordanland. Seitdem kontrolliert Israel das ganze Dorf. Die israelische Sperranlage, die Israel in der Hochzeit von palästinensischen Terroranschlägen baute, befindet sich hinter Barta’a. Auch der palästinensische Teil des Dorfes liegt somit auf der israelischen Seite. Doch die israelischen Behörden impfen offiziell nur die Bevölkerung von West-Barta’a.
In Büro des Vize-Bürgermeister von Ost-Barta’a hängen eine palästinensische Flagge, sowie Fotos von Präsident Machmud Abbas und dessen Vorgänger Yassir Arafat. Doch die Palästinensische Autonomiebehörde hat hier kaum etwas zu sagen. In diesem Teil des Westjordanlandes ist Israel sowohl für die Sicherheit als auch für die Verwaltung zuständig. Das Rathaus ist schon etwas in die Jahre gekommen. Aus dem Büro des Bürgermeisters geht der Blick bis an die israelische Mittelmeerküste. Israel wirkt deutlich näher als das restliche Westjordanland. Doch ohne Genehmigung dürfen die Bewohner von Ost-Barta’a Israel gar nicht betreten – offiziell noch nicht einmal den westlichen Teil ihres Dorfes. Wenn die Bewohner von Ost-Barta’a schwer an Covid-19 erkranken, müssen sie einen israelischen Kontrollposten passieren und werden in Krankenhäuser im Westjordanland gebracht. Die sind aktuell überlastet. Im Westjordanland wütet die Corona-Pandemie. In Israel kehrt dank der hohen Impfquote immer mehr Normalität ein. Barta’a zeigt wie unterm Brennglas, wie unterschiedlich die Corona-Welten von Israel und den palästinensischen Gebieten sind.
"Das ist alles völlig verrückt. Hier leben Verwandte fünf Meter voneinander entfernt. Einer hat einen israelischen Ausweis, der andere nicht. Und was die Impfungen betrifft: Israel muss das übernehmen. Israel ist als Besatzungsmacht verantwortlich für alle Belange der Palästinenser." Abdullah Kabaha, Vize-Bürgermeister von Ost-Barta’a
Eine Sichtweise, die Israel entschieden zurückweist. Laut den Oslo-Verträgen seien die Palästinenser für den Gesundheitssektor verantwortlich. Das wiederum sehen die Palästinenser anders. Israel hat etwa 100.000 Palästinenser geimpft. Auch für die Bevölkerung von Ost-Barta’a wurden vereinzelt Ausnahmen gemacht. Auch der Vizebürgermeister bekam eine Impfung. Darüber will er aber nicht so gerne reden. Es wirkt, als sei es ihm unangenehm, einer der wenigen Bewohner von Ost-Barta’a zu sein, die geimpft wurden – und dann auch noch von Israel, einem Land, das er scharf kritisiert. Neben dem Bürgermeister sitzt eine Mitarbeiterin des Rathauses. Sie probierte mehrfach, an den begehrten Impfstoff in Israel zu kommen und schaffte es nicht.
Auf dem Weg zum Rathaus von West-Barta’a, in Israel, gibt es viele Geschäfte. Die absurde Teilung des Dorfes hat auch wirtschaftliche Vorteile: In Ost-Barta’a sind viele Produkte viel günstiger als in Israel. Und weil das Dorf auf der israelischen Seite des Zaunes liegt, kommen viele arabische und jüdische Israelis zum Einkaufen. Das Rathaus von West-Barta’a ist ein schöner, moderner Bau. Im Büro von Bürgermeister Raed Kabaha wäre ein Foto von Jassir Arafat undenkbar. Kabaha war einer der ersten, die sich impfen ließen. Er sei Israel dankbar, sagt er. Aber der arabische Israeli versteht einfach nicht, warum Israel nicht auch die Bewohner von Ost-Barta’a impft.
"Das ist auf jeden Fall eine politische Entscheidung. Für Israel geht es ja nicht um eine hohe Zahl von Impfdosen. Vielleicht will die Regierung einfach keinen Präzedenzfall schaffen und damit anerkennen, dass sie eine Verantwortung hat." Raed Kabaha, Bürgermeister von West Barta’a
Auch israelische Epidemiologen fordern, dass Israel die Palästinenser impft. Dies sei im Interesse beider Seiten. Der Bürgermeister von West Barta’a sagt: Das Dorf spiegele wider, was zwischen Israel und Palästina geschieht. Es handele sich um zwei Länder mit sehr engen Kontakten.
"Wenn Sie sich hier an einem Samstag umschauen: 60 Prozent der Menschen sind jüdische Israelis, die zum Einkaufen kommen. In beide Teile von Barta’a. Warum also diese Trennung? Wenn sich Israel kümmert, wären beide Seiten geschützt." Raed Kabaha, Bürgermeister von West Barta’a
Der arabisch-israelische Bürgermeister verhandelt mit israelischen Behörden. Er will sie davon überzeugen, auch die Menschen auf der anderen Seite des Dorfes zu impfen. Ein Dorf, eine Familie, ein Volk. So sieht es Raed Kabaha. Die Corona-Krise habe die Menschen des geteilten Dorfes noch enger zusammengeschweißt.