Gefälschte Accounts und Social Bots sperren, Fake-Verbreitern die Werbeeinnahmen entziehen und Forschung erleichtern: Vor der Europawahl gehen soziale Netzwerke gegen Desinformation in die Offensive. Der Begriff Desinformation bezeichnet Falschmeldungen, die bewusst verbreitet werden, um zu täuschen oder Schaden anzurichten.
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Selbstverpflichtung mit Schwächen
Im September verpflichteten sich Online-Plattformen wie Facebook, Twitter und Google freiwillig dazu, stärker gegen falsche oder irreführende Inhalte vorzugehen - auch mit Blick auf die Europawahlen in ein paar Tagen. Grundlage ist ein Aktionsplan gegen Desinformation von der Kommission der Europäischen Union.
Der Verhaltenskodex für die Online-Plattformen sieht vor, dass die Plattformen Verbreitern von Falschmeldungen die Werbeeinnahmen entziehen, Fake-Accounts und Social Bots entfernen, Daten für die Forschung bereitstellen und die Nutzer dazu animieren, Fakes zu melden und mehrere Quellen zu befragen.
Die Unterzeichner bestätigten außerdem, vertrauenswürdige Inhalte besser auffindbar zu machen und politische Werbung offenzulegen. Definiert wird politische Werbung in der Abmachung als "Werbeanzeige für oder gegen die Wahl eines Kandidaten bzw. für oder gegen die Zustimmung zu einem Referendum im Rahmen nationaler und europäischer Wahlen".
Monatliche Reports an EU-Kommission
Jeden Monat liefern die Plattformen einen Bericht mit ihren Ergebnissen bei der EU-Kommission ab. Im April-Report berichtete Facebook über die Eröffnung des "Election Operation Center" in seinem Dubliner Büro, eine Art Lagezentrum zur Europawahl. Die Mitarbeiter sollen hier Fake-Accounts ausmachen und mögliche Manipulationen erkennen. Ein Netzwerk russischer Accounts mit Fokus auf die Ukraine sei gelöscht worden, schrieb Facebook in seinem Bericht.
Die EU-Kommission attestierte die Fortschritte der Plattformen im Kampf gegen Desinformation vorherige Woche als positiv, forderte aber detailliertere Daten.
Die Faktencheckerin Karolin Schwarz, die Desinformation nachgeht und auch für den ARD-Faktenfinder schreibt, wertet die Selbstverpflichtung der Unternehmen als einen guten Schritt. Er reiche allerdings nicht aus und zeige schon seit Wochen seine Schwächen, sagte sie gegenüber BR24.
Politische Wahlwerbung auf Facebook und Twitter
Seit April machen Facebook und Twitter in einer Werbebibliothek transparent, wer eine politische Werbeanzeige schaltet, wie viel er etwa dafür ausgibt und welche Nutzergruppen er erreicht. Akteure, die eine Anzeige in einem EU-Land schalten wollen, müssen sich nun registrieren und dürfen nur noch in dem Land werben, in dem sie gemeldet sind. Damit soll eine mögliche Einflussnahme aus dem Ausland unterbunden werden.
Laut Faktencheckerin Schwarz ist das Archiv erst einmal gut, weil man so gesammelt einsehen kann, welche Anzeigen ein bestimmter Akteur geschaltet hat. Das Problem aber sei, dass die Plattformen "politische Werbung" unterschiedlich definieren.
"Bei Twitter zum Beispiel sind politische Werbetreibende Parteien und Kandidaten. Wir sehen aber, dass dort auch Accounts politische Werbung schalten, die nicht in dieses Schema passen und dementsprechend nicht als politisch Werbende eingeordnet werden“, sagte Schwarz.
Darunter falle zum Beispiel ein Beitrag der AfD-nahen Wochenzeitung "Deutschland Kurier", die nicht als politischer Werbetreibender geführt werde. Darin zu sehen sind Facebook-Chef Mark Zuckerberg und EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani bei einem Treffen in Brüssel vom Mai 2018.
Auf Facebook stieß die Faktencheckerin Schwarz auf einen Post des "Vereins zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten", der laut Plattform zunächst nicht als Werbung gekennzeichnet war. Der Verein und seine Vorgängervereinigungen unterstützen die AfD schon seit 2016 in verschiedenen Wahlkämpfen mit Wahlplakaten, Anzeigen und Zeitungen wie dem "Deutschland-Kurier".
Relativ wenig bezahlte politische Werbung
Ein Team um Simon Hegelich, Professor für Political Data Science an der Hochschule für Politik München, sammelte auf Facebook die bezahlten politischen Werbeanzeigen und wertete sie aus. Ein eigens programmiertes Dashboard, das auf die Programmierschnittstelle von Facebook-Ads zugreift und sich zweimal am Tag aktualisiert, zeigt die aktivsten und erfolgreichsten Parteien, die aktuell in Deutschland politische Wahlwerbung schalten. Am Mittwoch waren das die FDP, SPD und Grünen. Innerhalb der vergangenen 30 Tage gaben laut Facebook-Report die CDU, Grünen, SPD und FDP am meisten Geld aus.
Ähnlich wie Schwarz kritisierte der Politikwissenschaftler Hegelich gegenüber BR24, dass Facebook nicht transparent mache, wie "politische Wahlwerbung" eingeordnet werde. Bei seiner Analyse sei das Team auf Beiträge gestoßen, die von Facebook als politische Wahlwerbung deklariert wurden, aber gar nicht politisch seien. So stießen die Wissenschaftler zum Beispiel auf eine Anzeige, die für ein T-Shirt mit Batman-Aufdruck warb. Der Politikwissenschaftler geht deshalb davon aus, dass im Datensatz auch tatsächliche politische Inhalte fehlen könnten. Insgesamt betonte er, dass das Ausmaß an bezahlter politischer Werbung relativ gering sei - gerade wenn man die Zahlen mit denen aus den USA vergleiche.
Fragwürdige Sperrungen von Twitter-Accounts
Ein weiteres Problem der Plattformen im Kampf gegen Desinformation gab es vergangene Woche auf Twitter zu beobachten. Das Unternehmen hatte im April eine neue Funktion zur Europawahl bereitgestellt, bei der Nutzer falsche oder irreführende Informationen zur Wahl melden können. Danach wurden zahlreiche Accounts gesperrt, die sich überhaupt nicht zur Wahl geäußert hatten, zum Beispiel der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) oder der Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine".
Eine Vertreterin von Twitter Deutschland räumte im Digitalausschuss des Bundestages laut Sitzungsteilnehmern ein, dass Twitter Fehler gemacht habe. Sie erklärte, dass jede Meldung von Menschen geprüft werde - die Sperrungen passieren also nicht automatisiert wie zuvor viele vermutet hatten. Twitter kündigte an, die Mitarbeiter, die weltweit an verschiedenen Standorten sitzen, weiter zu schulen.
Wie groß ist das Problem der Desinformation?
Wie groß das Problem der Desinformation in sozialen Netzwerken ist, ist nach wie vor nicht geklärt. Erst diese Woche berichtete "Spiegel Online" von einer Oxford-Studie, die Falschmeldungen für ein überschätztes Problem halte.
Auf Twitter hätten die Forscher im Zeitraum von zwei Wochen "zehnmal mehr seriöse Tweets von Medien, Parteien, Politikern und Bürgern in deutscher Sprache identifiziert als irreführende Botschaften". Auf Facebook bekämen unseriöse Portale zwar mehr Kommentare, Likes und Shares als seriöse Medien, in der Summe erreichten die seriösen Angebote aber deutlich mehr Menschen.
Einen Tag nach dem Spiegel-Artikel veröffentlichte die gemeinnützige Organisation Avaaz eine Studie, die genau das Gegenteil bewiesen sieht. Die Online-Aktivisten machten in Deutschland etwa 130 Fake-Accounts auf Facebook aus, die gezielt falsche oder irreführende Informationen in Umlauf brachten. Diese seien millionenfach abgerufen worden. Facebook habe Avaaz zufolge mittlerweile reagiert und die verdächtigen Accounts gesperrt.
Eine ungeklärte Frage bleibt also weiterhin, wie viel Desinformation in sozialen Netzwerken existiert. Eine weitere: Können falsche und irreführende Informationen die Wahlentscheidung von Menschen - zum Beispiel zur Europawahl - beeinflussen? Politikwissenschaftler Hegelich stellte dazu fest: "Es gibt derzeit keine wissenschaftliche Studie, die einen Effekt von Desinformationskampagnen nachweisen kann."