- Impfbefreiungen aus dem Internet erfüllen nicht die rechtlichen Anforderungen
- Ein Arzt muss bescheinigen, dass jemand nicht geimpft werden kann
- Eine falsche Bescheinigung kann Folgen für den Arbeitnehmer und seinen Arbeitgeber haben
Bis Mitte März 2022 müssen alle Beschäftigten im Gesundheitswesen nachweisen, dass sie vollständig geimpft sind. So regelt es Paragraph 20a des Infektionsschutzgesetzes. Wer ein ärztliches Zeugnis vorlegt, dass "auf Grund einer medizinischen Kontraindikation" eine Impfung gegen SARS-Cov-2 nicht möglich sei, ist von dieser Impfpflicht ausgenommen.
Mit angeblichen Impfbefreiungen versucht eine deutsche Firma scheinbar europaweit Geschäft zu machen. Die Firma verkaufte vorher bereits fragwürdige Test-Nachweise. Nun vertreibt sie Bescheinigungen, die belegen sollen, dass der Inhaber "vorläufig impfunfähig" sei.
Das Unternehmen spricht Kunden in Deutschland und elf weiteren europäischen Ländern an, darunter Spanien, Frankreich, Italien und die Niederlande. Auf einschlägigen Youtube-Kanälen wird das Angebot erwähnt und in Telegram-Gruppen werden die Links zu dem Portal verbreitet.
Die #Faktenfuchs-Recherche zeigt: Juristen, Mediziner und Ärztekammern halten die von der Firma ausgestellten Bescheinigungen für keine Befreiung im Sinne des Infektionsschutzgesetzes. Die medizinischen Behauptungen des Anbieters sind Ärzten zufolge nicht haltbar. Die Ausstellung der Nachweise könnte für den Betreiber der dahinterstehenden Firma sowie eine Ärztin Konsequenzen haben. Gegen beide laufen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen.
Bescheinigung nach ein paar Klicks
Eine Bescheinigung über eine angebliche Impfbefreiung zu bekommen, ist kein großer Aufwand: Man muss sich lediglich auf dem Portal der Firma registrieren, seine persönlichen Daten angeben, knapp 20 Euro bezahlen und anschließend ein zwölf Minuten langes Video anschauen, in dem unter anderem mögliche, aber sehr seltene Nebenwirkungen der Impfung aufgezählt werden.
Bei dem Videomaterial handelt es sich um Stock-Videos, also um fremdproduziertes, im Handel verfügbares Material, wie diese Recherche von tagesschau.de zeigt. Schauspieler stellen Ärzte dar; die Tagesschau schreibt von einer "emotionalen und wertenden Bildsprache".
Nach Betrachten des Videos wird der User zu einem kurzen Fragebogen geleitet. Er kann einen der Impfstoffe auswählen und bekommt eine Liste aller Inhaltsstoffe angezeigt. Dazu wird gefragt, ob mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass eine Allergie gegen einen dieser Inhaltsstoffe vorliegt. Wer eines der Kästchen ankreuzt und damit angibt, dass er eine Allergie nicht ausschließen kann, erhält schließlich fünf PDF-Dateien, darunter eine Bescheinigung der "vorläufigen Impfunfähigkeit"”, sowie Schreiben "zur Vorlage beim Arbeitgeber" und für den Fall einer Nachweiskontrolle.
Dem #Faktenfuchs liegen diese Dokumente vor, so wie sie am 7. Februar über das Portal generiert wurden.
Impfeignung nur nach Untersuchung? Ärzte widersprechen
Sowohl auf dem Schreiben, als auch auf der Website und in dem zwölf-minütigen Video heißt es immer wieder: Wer nicht ausführlich auf mögliche Allergien hinsichtlich der Inhaltsstoffe des jeweiligen Impfserums untersucht wurde, gelte vorläufig als impfunfähig.
Diese Behauptung sei medizinisch-wissenschaftlich nicht haltbar, schreibt Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Auch Margitta Worm bewertet die Aussage als "nicht korrekt". Sie ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinischen Immunologie.
In ihrer Mail an den #Faktenfuchs schreibt sie, dass Allergiezentren im letzten Jahr "mehrere tausend zusätzliche Personen" beraten hätten. Der Großteil sei nach der Beratung "erfolgreich und ohne Zwischenfälle" geimpft worden. Worm schreibt, bisher gebe es keine Hinweise für erhöhte Risiken aus allergologischer Sicht. Die bislang erhobenen Daten zu aufgetretenen allergischen Sofortreaktionen zeigten sehr geringe Fallzahlen, die "im Bereich 2-5 auf 1 Mio. Impfungen liegen."
Die Aussagen des Portals implizieren also fälschlicherweise, dass eine Impfunfähigkeit grundsätzlich vorliegt und durch eine ärztliche Untersuchung erstmal das Gegenteil bewiesen werden muss. Andreas Spickhoff, Professor für Medizinrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München sagt im Gespräch mit dem #Faktenfuchs: "Das Gesetz sieht es aber genau andersherum: Die Kontraindikation ist die Ausnahme und die Impfmöglichkeit die Regel."
Dokument laut mehrerer Juristen keine Impfbefreiung im Sinne des Gesetzes
Spickhoff hat sich die Dokumente, die über das Portal generiert werden, für den #Faktenfuchs angeschaut. Sein Fazit: "Diese Bescheinigungen genügen den Anforderungen für die Ausnahme von der Impfpflicht in den betroffenen Einrichtungen eindeutig nicht."
Zu dieser Einschätzung kommen auch die Medizinrechtler Josef Lindner von der Universität Augsburg und Karsten Gaede von der Bucerius Law School in Hamburg sowie mehrere Landesärztekammern und das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege.
Laut den Juristen ist für eine Befreiung von der Impfpflicht Voraussetzung, dass das Vorliegen einer medizinischen Kontraindikation auf der Bescheinigung formuliert ist. "Und das ist eben nicht der Fall", sagt Andreas Spickhoff im Hinblick auf die Nachweise des Portals.
Die Bescheinigung über die "vorläufige Impfunfähigkeit" sagt nur, dass eine Kontraindikation nicht ausgeschlossen werden könne und man daher angeblich für sechs Monate von der Impfpflicht befreit sei, um die entsprechenden Untersuchungen zu machen.
Auch diese Argumentation hält Andreas Spickhoff für nicht wasserdicht: "Wenn man drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes ankommt und eine Bescheinigung beisteuert, wonach man in dem nächsten halben Jahr den Plan hat, sich mal auf Kontraindikation testen zu lassen, genügt das ganz klar nicht den Anforderungen."
Ärzte: Patientenkontakt ist notwendig
Für das Ausstellen eines tatsächlichen Zeugnisses über eine Kontraindikation müsse der Arzt direkt mit dem Patienten sprechen, sagt Josef Lindner von der Uni Augsburg. "Ein bloßer, mehr oder weniger anonymer oder formalisierter Internetkontakt aufgrund eines Vordrucks mit dann vorgefertigter Bescheinigung genügt dem aus meiner Sicht nicht."
Am Ende sei es immer eine ärztliche Einzelfallentscheidung. Auch die Bayerische Landesärztekammer schreibt, dass eine "gründliche Anamnese und eine körperliche Untersuchung entsprechend den medizinisch-fachlichen Standards notwendig" sei.
Stellen Ärztinnen oder Ärzte solche Zeugnisse aus, müssen sie die Sorgfaltspflicht beachten: Nach Paragraph 25 der Berufsordnung haben Ärzte bei der Ausstellung ärztlicher Gutachten und Zeugnisse "mit der notwendigen Sorgfalt zu verfahren".
Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Ärztin und Unternehmer
Die Dokumente des Portals werden aus einer Vorlage erzeugt. Ausgestellt und unterzeichnet sind sie von einer "Dr. Marianne Müller", der Stempel neben ihrer Unterschrift verweist auf eine Adresse in der Nähe von Stuttgart. Laut Landesärztekammer Baden-Württemberg ist Müller dort jedoch nicht beruflich gemeldet. Unter der Adresse kann man sich ein "virtuelles Büro" mieten. Die Telefonnummer im Stempel der Ärztin führt zu dem Unternehmen, das hinter dem Nachweis-Portal steht.
Ein Sprecher der Landesärztekammer Niedersachsen, wo das Unternehmen hinter dem Nachweis-Portal sitzt, sagt zu den käuflich zu erwerbenden Bescheinigungen: "Ein solches Angebot widerspricht allen Regeln der ärztlichen Sorgfalt bei der Ausstellung von Attesten."
Gegen die Ärztin Marianne Müller ermittelt mittlerweile die Staatsanwaltschaft Ravensburg wegen des Verdachts des Ausstellens "unrichtiger Gesundheitszeugnisse". Müller arbeitet einem öffentlich zugänglichen Lebenslauf zufolge seit 2011 nicht mehr als Ärztin.
Auch gegen das Unternehmen läuft ein Verfahren. Die Ermittlungen dauerten an, sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade dem #Faktenfuchs. Man wolle die Sachlage umfassend bewerten und prüfen, ob Straftatbestände erfüllt seien.
Medizinrechtler kritisieren das Angebot
Karsten Gaede, Professor für Medizinstrafrecht an der Bucerius Law School Hamburg, sagt, zwei mögliche Straftatbestände bedürften beim Angebot der angeblichen Befreiung von der Impfpflicht der Prüfung. Zum einen die Frage, ob es sich um die Ausstellung unrichtiger Gesundheitszeugnisse handelt und zum anderen, ob angesichts einer lediglich in Aussicht gestellten Befreiung ein Betrug vorliegt. Voraussetzung dafür wäre, dass falsche Tatsachen vorgespiegelt werden oder wahre Tatsachen unterdrückt werden.
Medizinrechtler Spickhoff nennt die Nachweise des Portals "Beutelschneiderei". Man versuche, ein Geschäftsmodell mit Impfgegnern und Personen, die Angst vor der Impfung haben, zu machen, "indem man den Eindruck erweckt, mit der Bescheinigung käme man durch. Das ist offensichtlich nicht der Fall".
Wettbewerbszentrale wurde aktiv, Betreiber tauscht Firma aus
Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs ist wegen des Anbieters bereits aktiv geworden. Mitte Januar hatte sie einen Antrag auf Unterlassung gestellt, wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsgesetz. Nach Auffassung der Zentrale dürfe das Unternehmen nicht für die Nachweise werben, ohne dass unmittelbarer Kontakt zwischen Arzt und Patient bestehe.
Das Landgericht Stade ist dieser Einschätzung gefolgt und hat eine einstweilige Verfügung erlassen. Wirbt das Unternehmen weiterhin mit den zweifelhaften Nachweisen, droht eine Strafe. Die Unterlagen liegen dem #Faktenfuchs vor.
Geschäftsführer der Firma, die das Portal mit den Nachweisen betreibt, ist der Unternehmer Markus Bönig, der mehrere Firmen im Bereich der digitalen Gesundheitsdienstleistungen gegründet hat und leitet.
Wenige Tage nach dem Beschluss des Landgerichts Stade gab es einen Wechsel im Impressum des Portals. Dort steht nun eine andere Firma aus Bönigs Unternehmensgeflecht, die ursprüngliche Firma existiert offenbar nicht mehr. Auch der Name des Nachweis-Portals hat sich in diesen Tagen geändert. Das zeigen archivierte Versionen der Webseite von Ende Januar.
Das hat auch Auswirkungen auf die einstweilige Verfügung. Christiane Köber, Anwältin bei der Wettbewerbszentrale, schreibt: "Wir müssen jetzt gegen dieses Unternehmen neu vorgehen, weil die einstweilige Verfügung natürlich keine Wirkung gegenüber diesem Unternehmen entfaltet - auch wenn tatsächlich derselbe Geschäftsführer hinter dem Konzept steht."
Personen hinter dem Portal sind Parteikollegen bei "Die Basis"
Geschäftsführer Bönig war - zumindest während des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 2021 - Mitglied der Partei "Die Basis", die sich aus dem Umfeld der Querdenken-Szene gegründet hat.
Laut einem internen Parteischreiben aus dem Juli 2021, das dem #Faktenfuchs vorliegt, sah Bönig sich selbst als "Bundeswahlkampfleiter", was wohl innerhalb der Partei nicht abgesprochen war. Auch Bönigs unternehmerische Aktivitäten stießen demnach auf Kritik. Bönigs Gesundheitsunternehmen "versuchten von der sogenannten Pandemie zu profitieren", heißt es in dem Papier.
In demselben Schreiben taucht auch der Name Marianne Müller auf. Die Ärztin, die nun die Zertifikate von Bönigs Portal unterschreibt, war während des Bundestagswahlkampfes 2021 die Spitzenkandidatin der "Basis" in Baden-Württemberg und ist nach eigenen Angaben weiterhin Parteimitglied.
Müller und Bönig: Geschäftsmodell entspricht gesetzlichen Anforderungen
Müllers Anwalt, der auf die #Faktenfuchs-Anfrage antwortet, teilt mit, sie erstelle "lediglich ein privatärztliches Gutachten". Weiter heißt es, dass so etwas in diesem Bereich regelmäßig ohne persönlichen Kontakt zwischen Begutachtetem und Arzt stattfinde.
Das Vorgehen von Müller orientiere sich "an den ethischen Grundsätzen für das ärztliche Handeln. Wird ein Nutzer vor einer Impfung nicht auf mögliche Allergien abgeprüft, liegt eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht vor", heißt es in dem Schreiben des Anwalts.
Derselbe Anwalt antwortet auch im Namen von Bönig auf die #Faktenfuchs-Anfrage. Zur Meinung der Experten, die Bescheinigungen seien nicht ausreichend im Sinne des Infektionsschutzgesetzes, schreibt der Anwalt, die Experten seiner Mandanten "vertreten dazu die gegenteilige Ansicht". Es werde lediglich eine "ärztliche gutachterliche Stellungnahme" angeboten. Man sei der Ansicht, "dass dieses Geschäftsmodell im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften des § 20a IfSG steht."
Bönig und Müller halten demnach an ihrer ursprünglichen Aussage fest: "Wenn ein Nutzer nicht weiß, ob er gegen die Inhaltsstoffe der Covid-19-Impfungen allergisch ist, dann ist dieser Nutzer vorläufig impfunfähig."
Weiter heißt es in dem Schreiben, die "Dokumentation enthält keine Aussage über den Gesundheitszustand des Nutzers." Es werde "lediglich dokumentiert, dass der Nutzer sich in einem Abklärungsprozess bezüglich seiner Impffähigkeit befindet."
Auf die Frage, warum sich die Firma und der Name des Portals Ende Januar änderten, schreibt Bönigs Anwalt, das neue Portal "wurde bereits in den Wochen vor der einstweiligen Entscheidung des Landgerichts Stade entwickelt".
Falsche Bescheinigung kann Folgen für Arbeitgeber und Beschäftigte haben
Ob das Geschäft mit den Bescheinigungen Folgen für Müller und Bönig haben wird, werden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und die Auffassung von Gerichten zeigen. Doch auch wer eine solche Bescheinigung vorlegt oder akzeptiert, könnte Probleme bekommen.
Eines der fünf Dokumente, die man nach Anmeldung und Zahlung von dem Portal erhält, ist ein Begleitschreiben zur "Vorlage an den Arbeitgeber". Da das Schreiben laut der drei Juristen, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, den Anforderungen an eine Befreiung von der Impfpflicht nicht genügt, könnte das Vorlegen eines solchen Dokuments sowohl Folgen für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer haben.
Medizinstrafrechtler Gaede sagt, die Arbeitgeber hätten die Verantwortung, "abzusichern", dass ihnen nicht irgendeine, sondern nur eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Bescheinigung vorgelegt werde. Andreas Spickhoff bestätigt: Falls es zu einer Kontrolle durch das Gesundheitsamt oder eine andere Behörde kommen sollte, wäre der Arbeitgeber in der Pflicht. Für den Arbeitnehmer könnte das Vorzeigen eines unzureichenden Nachweises auch Folgen für das Arbeitsverhältnis haben.
Nachweise des Portals auch schon in Bayern aufgefallen
In Bayern scheinen solche Nachweise bereits ein Thema zu sein. Die Landesärztekammer Bayern antwortet dem #Faktenfuchs, es sei eine "höhere zweistellige Zahl an Verdachtshinweisen im Zusammenhang mit der Ausstellung ungerechtfertigter Impfbefreiungen eingegangen." Diese Hinweise betreffen laut der Kammer aber nicht nur Impfungen gegen COVID-19, sondern etwa auch die Masernimpfungen.
Das bayerische Gesundheitsministerium bestätigte dem #Faktenfuchs, dass die Nachweise des Portals von Bönig in Bayern aufgetaucht sind. Die entsprechenden Dokumente seien den bayerischen Gesundheitsämtern "vereinzelt als zweifelhaft in Bezug auf Echtheit oder inhaltliche Richtigkeit gemeldet worden".
Fazit:
Ein Portal verkauft Impfbefreiungen, die nach Einschätzung von Juristen, Medizinern und Ärztekammern kein gesetzlich anerkannter Nachweis sind. Die Behauptung des Portals, dass man ohne Untersuchung vorläufig impfunfähig sei, ist falsch. Gegen Betreiber und Ärztin des Portals ermitteln Staatsanwaltschaften.
Für eine tatsächliche Befreiung von der Impfpflicht im Sinne des Gesetzes ist laut Experten ein persönlicher Arztbesuch und eine gründliche Untersuchung notwendig.
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