Darum geht's:
- Im Netz kursieren Behauptungen um ein angeblich neues Krankheitsbild: "Turbo-Krebs", ausgelöst durch die Covid-Impfung
- Laut Onkologen und Virologen gibt es bislang keine wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse für ein derartiges Phänomen
- Die Covid-Impfung wird insbesondere Krebspatienten empfohlen, da ihnen ein schwerer Verlauf bei einer Corona-Infektion droht
Der Begriff "Turbo-Krebs" kommt in der Medizin gar nicht vor. Er beschreibt keine Diagnose und ist auch unter Onkologen, also Krebsmedizinern, nicht geläufig. Und es gibt diesen Experten zufolge auch kein neues Krankheitsbild, das dazu passen würde. Dennoch kursieren im Netz immer wieder Artikel von sogenannten alternativen Medien und Posts in den sozialen Netzwerken, in denen behauptet wird, Menschen erkrankten infolge der Covid-Impfung an "Turbo-Krebs".
Unter dem Begriff "Turbo-Krebs" sammeln sich Gerüchte über aggressive Tumorarten, die sich angeblich schneller ausbreiten als bisher bekannt. Für ein solches Phänomen gibt es aber laut Experten in Deutschland weder klinische Hinweise noch wissenschaftliche Belege.
Behauptungen rund um "Turbo-Krebs" kursieren immer wieder auf sogenannten alternativen Medien wie "Epoch Times", eine der reichweitenstärksten Desinformations-Seiten, dem Verschwörungssender "Auf1", in dem regelmäßig Rechtsextreme auftreten, oder "Reitschuster.de", dem rechtspopulistischen Blog, der während der Pandemie immer wieder mit Falschbehauptungen auffiel. Reichweitenstarke Accounts, die in den vergangenen Jahren ebenfalls Covid-Falschinformationen teilten, verbreiten die Gerüchte auf X, ehemals Twitter, oder Telegram weiter.
Unseriöser US-Arzt vertritt Thesen zu angeblichem "Turbo-Krebs"
Häufig beziehen sich die Beiträge auf Aussagen eines US-amerikanischen Arztes, der während der Corona-Pandemie durch Falschbehauptungen auffiel. Die für ihn zuständige Approbationsbehörde, die Washington Medical Commission, wirft ihm vor, zahlreiche falsche und irreführende Behauptungen im Zusammenhang mit Covid-19 verbreitet zu haben. Außerdem soll er Patienten, die Covid hatten oder sich davor schützen wollten, nicht nach medizinischen Standards behandelt haben.
Eine Entscheidung im Verfahren wegen unprofessionellen Verhaltens (Englisch: "unprofessional conduct") steht laut dem Department of Health in Washington noch aus. Dass - wie im Fall von "Turbo-Krebs" - auf Pseudo-Experten, also unseriöse, vermeintliche Fachmänner oder -frauen, zurückgegriffen wird, ist bei Behauptungen rund um Covid-19 nichts Neues.
Kürzlich erschienene Krebs-Studien betrachten Zeitraum vor der Pandemie
Auch kürzlich erschienene und durchaus seriöse Studien zur Entwicklung der Krebszahlen werden mit "Turbo-Krebs"-Behauptungen verknüpft - obwohl sie nichts damit zu tun haben. So wird etwa eine 2022 im Fachmagazin "Nature" veröffentlichte Studie herangezogen, in der steigende Krebszahlen bei Menschen festgestellt werden, die jünger sind als 50 Jahre.
Die Autoren dieser Studie schreiben deutlich, dass sich die vermehrten Krebsfälle größtenteils auf den ungesunden Lebenswandel der Menschen zurückführen lassen. "Epoch Times" hat aber dennoch die Covid-Impfung im Verdacht, eine Rolle bei den steigenden Zahlen zu spielen. Ein Blick in die Studie entkräftet das schnell: Die untersuchten Daten stammen aus dem Zeitraum 2002 bis 2012.
Gleiches gilt für eine 2023 erschienene Langzeit-Analyse von Krebserkrankungen. Sie erschien im Fachjournal "BMJ Oncology", viele große deutsche Medien berichteten darüber, wie etwa "Spiegel" oder "ZDF". Laut dieser Studie ist die Zahl der Krebsdiagnosen in den vergangenen 30 Jahren bei den Unter-50-Jährigen um rund 80 Prozent gestiegen. Dass die Covid-Impfkampagne eine Rolle spielen könnte, ist aber auch hier ausgeschlossen: Die untersuchten Daten stammen aus dem Zeitraum 1990 bis 2019.
Onkologen großer Kliniken sehen keine Anzeichen von "Turbo-Krebs"
Doch wie sieht die aktuelle Entwicklung aus? Große epidemiologische Studien zu Krebserkrankungen in Verbindung mit der Corona-Pandemie und der Corona-Impfkampagne gibt es laut Onkologen bislang nicht. Es ist aber davon auszugehen, dass es in großen Krebszentren auffallen würde, wenn es eine Häufung eines derartigen Krankheitsbildes gäbe. Das ist nicht der Fall.
Hana Algül ist Direktor des Comprehensive Cancer Center der Technischen Universität München und Onkologe am Klinikum Rechts der Isar. Er verweist im Gespräch mit dem #Faktenfuchs auf diese noch nicht vorhandenen Daten und sagt über sein Klinikum: "Ich habe bisher keine Erfahrung dahingehend gemacht, dass wir in der Onkologie jetzt plötzlich eine Sonderform eines schnell wachsenden Tumors im Zusammenhang mit Impfungen diagnostiziert hätten." Zusammenhänge zwischen Covid-Impfungen und Krebsausbrüchen sehe er gegenwärtig nicht.
Diesen Eindruck bestätigt auch Hermann Einsele, Onkologe am Universitätsklinikum Würzburg und Sprecher des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen NCT WERA. "Aus meiner täglichen Praxis kann ich jetzt nicht sagen, dass ich irgendwo einen Anstieg bestimmter Krebserkrankung sehe, die ich mit irgendeiner Impfung, sei es Corona oder einer anderen Impfung, in Zusammenhang bringe", sagt er dem #Faktenfuchs.
Noch keine Daten, die Anstieg von Lymphomen belegen würden
Im Zusammenhang mit dem angeblichen "Turbo-Krebs" stößt man auf die Behauptung, bestimmte Krebsarten wie Lymphome, also Lymphdrüsentumore, träten besonders häufig infolge der Corona-Impfung auf. Die Gerüchte drehen sich dabei meist um die mRNA-Impfstoffe.
Lymphknotenschwellungen nach einer Covid-Impfung oder auch nach einer Infektion können auftreten. Derzeit gebe es keine belastbaren Belege für einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Tumorerkrankungen der Lymphknoten, sogenannten Lymphomen, und einer Corona-Impfung, sagt Onkologe Algül. "Ob sich die Anzahl der Diagnosen in den vergangenen zwei Jahren deutlich nach oben bewegt hat, müssen wir erst noch epidemiologisch untersuchen", so Algül.
"Epidemiologisch" bedeutet, über einen längeren Zeitraum Zahlen zu einer Krankheit zu betrachten, erklärt Algül. Ausschläge nach oben und nach unten werden dadurch ausgeglichen, dass man sich einen langen Zeitraum anschaut. Dann könne man eine Tendenz feststellen. "Und das ist in meinen Augen noch viel zu früh", sagt Algül.
Stand der Wissenschaft: mRNA-Impfung verändert kein Erbgut
Die mRNA-Impfung liefert den Bauplan für ein bestimmtes Protein des Virus. Das wirkt im menschlichen Körper als Antigen, löst also eine Immunantwort aus. Dieses Protein wird in den menschlichen Zellen durch den mRNA-Bauplan gebildet.
Dass gerade die mRNA-Impfung aufgrund ihrer Eigenschaften Krebs auslösen könne - was Vertreter der "Turbo-Krebs"-Gerüchte immer wieder behaupten - hält Algül für Spekulation: "Wissenschaftliche Grundlagen dafür gibt es nicht." Krebs entsteht durch Mutationen des Erbguts.
Die Annahme, dass eine Impfung Krebs auslöst, impliziert, dass die mRNA dieses Erbgut verändern könne. Die mRNA-Impfung liefert aber nur den Bauplan für eine Proteinproduktion und kann das Erbgut nach heutigem Stand der Forschung nicht verändern, weil sie nicht in den Zellkern kommt.
"Nach dem heutigen Stand der biomedizinischen Wissenschaft kann sich eine mRNA nicht in das Erbgut einer Zelle integrieren und damit auch keine genetischen Veränderungen auslösen." Hana Algül, Onkologe am Klinikum Rechts der Isar der TU München
Auch dass die Impfung das Immunsystem so weit schwächen könnte, dass sich Krebs rasant ausbreitet, hält Algül für spekulativ und nicht belegt. "Mir fehlt - Stand heute - auch die wissenschaftliche Grundlage, mir vorzustellen, wie das funktionieren soll", sagt Algül.
Der Möglichkeit einer derartigen Schwächung des Immunsystems widerspricht auch Friedemann Weber, Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Gießen. "Sie müssen sich vorstellen: Unser Immunsystem ist täglich mit allen möglichen Antigenen konfrontiert. Da ist der Impfstoff nur eines unter vielen", sagt er im Interview mit dem #Faktenfuchs. Man bekomme zwar "eine ordentliche Dosis, aber das heißt nicht, dass das Immunsystem sich vollständig darauf fokussiert. Es vernachlässigt ganz sicher nicht andere Antigene".
Spike-Proteine liefern kein Indiz für Krebsursache
Auch eine andere Behauptung, die den Zusammenhang zwischen Krebs und der Corona-Impfung belegen soll, hält nach Webers Einschätzung den wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht stand: In Tumoren seien Spike-Proteine gefunden worden. Selbst wenn dies so wäre, ist es laut Weber kein Beleg dafür, dass die Proteine den Krebs verursacht hätten.
Infolge der Impfung produziere der Körper Spike-Proteine, die auch in der Blutbahn landen können, so Weber. Wenn jemand schon einen Tumor hat, bilde dieser Blutgefäße, um sich zu ernähren - dadurch können auch Spike-Proteine im Tumor hängenbleiben. "Aber das heißt noch lange nicht, dass es den Tumor ausgelöst hat." Da Spike-Proteine meist einige Tage, nach aktuellen Erkenntnissen höchstens rund vier Wochen, im Körper bleiben, müsste der Tumor dementsprechend schnell wachsen - das hält Weber für ebenso unwahrscheinlich.
Mediziner: Impfung für Krebspatienten besonders empfehlenswert
Auch für sonstige angebliche Zusammenhänge zwischen dem Entstehen von Krebserkrankungen und der Corona-Impfung "gibt es überhaupt keine Hinweise", sagt Virologe Weber. Er verweist darauf, dass gerade Onkologen ihren Krebspatienten eine Covid-Impfung empfehlen: "Und es gibt keinerlei Daten, die darauf hinweisen würden, dass das irgendwie kontraproduktiv wäre."
Für die Impfung von Krebserkrankten sprechen sich auch die Onkologen Algül und Einsele deutlich aus. Einsele sagt: "Ein Patient mit geschwächter Immunabwehr hat ein höheres Risiko, einen schweren Verlauf einer Corona-, Influenza- oder RSV-Infektion zu haben. Gerade solchen Patienten empfehlen wir sehr intensiv die Impfung, weil wir wissen, dass diese Patienten von der Impfung sogar noch mehr profitieren als der gesunde Mensch."
Algül erklärt, in der Krebsbekämpfung selbst komme mRNA gerade wegen seiner Eigenschaften, das Immunsystem zu stimulieren, zum Einsatz. "Mit der mRNA-Technologie lassen sich Tumorerkrankungen spezifisch bekämpfen, und zwar mittels Aktivierung des Immunsystems."
Fortgeschrittene Krebserkrankungen wegen Pandemie-Zuständen
Abseits der Impfungen gab es laut Onkologen rund um die Corona-Pandemie auch tatsächliche schwere Krankheitsbilder, die aber nicht mit der Impfung zusammenhängen. Vielmehr war laut Einsele ein Problem, dass in den Hochphasen der Pandemie viele Menschen aus Angst vor Ansteckungen gar nicht erst zum Arzt oder ins Krankenhaus gingen.
Viele Vor- oder Nachsorgetermine seien verschoben oder nicht wahrgenommen worden. "Dadurch haben wir Patienten gesehen, die sich mit weit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen vorstellten, in Stadien, die man über lange Zeit nicht mehr gesehen hat." Er plädiert daher dafür, Termine zur Krebsvor- und -nachsorge regelmäßig wahrzunehmen.
Onkologe fordert faktenbasierten Diskurs
Dem Münchner Onkologen Algül ist rund um aufkommende Behauptungen wichtig einzuordnen, wie man darüber diskutierten sollte: "Ich finde, man sollte in der Wissenschaft den Diskurs nicht unterbinden. Aber der muss solide, muss faktenbasiert sein."
Die Freiheit, Erkenntnisse zu hinterfragen, sei sehr wichtig, davon lebe die Wissenschaft, so Algül. "Was uns nicht hilft, ist, jede Information als Dogma hinzustellen und gar nicht darüber diskutieren zu wollen. Was aber auch nicht hilft, ist die Verbreitung von nicht wissenschaftlich erwiesenen Aussagen und die dann als erwiesen hinzustellen, das behindert und verhindert einen vernünftigen Diskurs."
Fazit
"Turbo-Krebs" ist als Phänomen in der Medizin als solches nicht bekannt. Für das Auftreten von aggressivem Krebs in Zusammenhang mit der Covid-Impfung gibt es nach aktuellem wissenschaftlichen Stand keinerlei Belege.
Die vom #Faktenfuchs befragten Onkologen verweisen zum einen auf noch nicht vorhandene epidemiologische Daten. Zum anderen können sie derzeit aus ihrer eigenen klinischen Praxis keinen Anstieg von plötzlich auftretenden, aggressiven Krebserkrankungen in Zusammenhang mit der Covid-Impfung berichten. Insgesamt sehen die vom #Faktenfuchs befragten Mediziner aktuell keine Anzeichen dafür, dass eine Impfung die Bildung von Krebstumoren begünstigen könnte.
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