Es sind mehrere Fälle, die aktuell in Bayern diskutiert werden: Bei Verhaftungen in München soll es zu gewaltsamen Szenen gekommen sein. Da ist zum einen der Fall eines Mannes, dem ein Polizist mehrere Male sein Knie in den Brustkorb gestoßen haben soll. Und da ist der Fall von Mani D., einem 18-Jährigen Schüler, der am vergangenen Wochenende in der Münchener Innenstadt in Konflikt mit der Polizei geriet.
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Mani D. erinnert sich so: Er wollte einen Streit zwischen zwei Jugendlichen schlichten. Als die Polizei dazu kam, lief er weg. Ein Fehler, wie er heute sagt. Zwei Passanten verfolgten ihn und hielten ihn fest. Als die Polizei ihn dann festnahm, klemmte ein Beamter Mani D.s Kopf zwischen seinen Knien ein. So erzählt er es und so ist es auch in Videos von dem Fall zu sehen, die der Schüler auf Instagram gepostet hat. Im Gespräch mit BR24 sagt er: "Ich hab dann geschrien: 'Haben sie nichts gelernt, hören Sie auf, ich kriege keine Luft mehr.'"
Was er auch sagt: Ein Polizist habe ihm mehrere Schläge in die Rippen und den Bauch versetzt - nach der Festnahme. Mani D. ist schwarz, die Aufnahmen, die den Tod des Afroamerikaners George Floyd durch einen amerikanischen Polizisten zeigen, hätten Spuren bei ihm hinterlassen. Deshalb sei er geflohen und deshalb habe er sich gewehrt.
Aus Sicht der Beamten stellt sich die Sache genau andersherum dar: Mani D. war es, der auf die Beamten losging. Er habe einen Beamten zu Boden gestoßen. Erst danach hätten zwei Passanten den flüchtenden jungen Mann festgehalten. Im darauffolgenden Gerangel soll er einem Polizisten zwei Schläge verpasst haben. Der Beamte ist seither dienstunfähig.
Ob es sich bei diesem Vorfall um Polizeigewalt handelte, um Widerstand gegen Polizeibeamte oder etwas ganz anderes, wird derzeit in einem Ermittlungsverfahren untersucht. Dafür sollen unter anderem die Bodycam-Videos der Polizisten ausgewertet werden. Zugleich entwickelt sich eine Diskussion um Polizeigewalt und die Frage, ob dies ein Einzelfall ist.
Kontrollen, Beleidigungen, Übergriffe: Was ist Polizeigewalt?
Eine eindeutige Definition von Polizeigewalt gibt es nicht. In der öffentlichen Debatte wird der Begriff oft sehr breit verwendet. Je nach Auffassung kann sich Polizeigewalt daher nur auf "physische Gewalt" beziehen (siehe: "unmittelbarer Zwang" unten) oder auch auf psychische Gewalt wie Beleidigungen.
Wie ist die Rechtslage?
Grundsätzlich gilt: Die Polizei darf in bestimmten Situationen körperliche Gewalt anwenden, um polizeiliche Maßnahmen durchzusetzen. Juristen bezeichnen dies als "unmittelbaren Zwang". Aber: Damit Gewalt zulässig ist, braucht sie eine gesetzliche Grundlage und muss verhältnismäßig sein. Konkrete Vorschriften dazu, wann der Einsatz von Polizeigewalt zulässig ist, finden sich unter anderem in den Polizeigesetzen von Bund und Ländern, der Strafprozessordnung sowie Gesetzen über die Anwendung unmittelbaren Zwangs. In Bayern legt das Bayerische Polizeiaufgabengesetz zum Beispiel fest, unter welchen Umständen jemand gefesselt werden darf – und wann der Gebrauch von Schusswaffen rechtmäßig ist.
Zudem gilt: Die Gewalt muss verhältnismäßig sein. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip folgt aus der Verfassung. Verhältnismäßig ist Gewalt nur dann, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt, das Ziel durch die Gewalt überhaupt erreicht werden kann und die Polizei nicht mehr Gewalt anwendet als nötig. Auch müssen immer die beiden sich gegenüberstehenden Rechtsgüter noch einmal abgewogen werden. Also etwa: Ist die Tatsache, dass ein Demonstrant droht, ein Ladenfenster einzuschlagen (Schutz des Eigentums), ein ausreichender Grund, um ihn gewaltsam niederzuringen (Schutz der körperlichen Unversehrtheit)? Ist die Gewalt unverhältnismäßig, dann ist sie rechtswidrig. In der Regel stellt sie dann eine "Körperverletzung im Amt" nach § 340 Strafgesetzbuch dar.
Welche Formen von Polizeigewalt gibt es?
Wendet ein Polizist unverhältnismäßige Gewalt an, kommen verschiedene Straftatbestände infrage. Forscher der Ruhr-Universität Bochum haben in einer Studie mehr als 3.000 Betroffene von Polizeigewalt zu ihren Erfahrungen und ihrem Anzeigeverhalten befragt. In den Fällen, in denen es zu einem Gerichtsverfahren kam, wurde Anklage aus den folgenden Gründen erhoben:
• Körperverletzung im Amt (mit 87 Prozent der weitaus größte Teil der Fälle)
• Nötigung/Amtsmissbrauch
• Freiheitsberaubung
• sexuelle Belästigung
• Sachbeschädigung
Wie häufig kommt Polizeigewalt vor?
Diese Frage lässt sich für Deutschland kaum seriös beantworten. Denn Forscher gehen davon aus, dass ein Großteil der polizeilichen Übergriffe nie zur Anzeige gebracht wird.
Bekannt gewordene Übergriffe von Polizisten lassen sich anhand von Kriminalitätskontrollstatistiken nachvollziehen. Dafür kann zum einen die Bayerische Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) herangezogen werden, die Informationen darüber enthält, wie viele Fälle einer möglichen "Körperverletzung im Amt" im jeweiligen Kalenderjahr bei der Polizei angezeigt wurden.
Zum anderen erfasst die Bayerische Justizgeschäftsstatistik der Staatsanwaltschaften die von den Staatsanwaltschaften erledigten "Ermittlungsverfahren wegen Gewaltausübung und Aussetzung durch Polizeibedienstete" – darin finden sich also Fälle, in denen Polizisten entweder selbst Gewalt verübten oder Menschen dieser aussetzten.
Beide Statistiken stellen vor allem eine Tätigkeitsstatistik der jeweiligen Behörde dar: Sie erfassen, wie viele Fälle beziehungsweise Verfahren durch Polizei oder Staatsanwaltschaft bearbeitet wurden. Die Polizeiliche Kriminalstatistik in Bayern zählt für das Jahr 2019 insgesamt 80 Fälle, in denen gegen Beamte wegen einer "Körperverletzung im Amt" ermittelt wurde. Die Zahl beinhaltet allerdings neben Polizisten auch alle sonstigen Amtsträger bei der Dienstausübung. Forscher gehen jedoch davon aus, dass die meisten dieser Verfahren sich gegen Polizeibeamte richten. Im Vorjahr 2018 waren es noch 98 Fälle, das ist also ein Rückgang um 18,4 Prozent. Angaben darüber, wie die Verfahren ausgegangen sind – ob Anklage erhoben oder die Ermittlungen eingestellt wurden – gehen aus der PKS nicht hervor.
Einen besseren Einblick bietet die Staatsanwaltschaftsstatistik: Ihr zufolge ermittelten die bayerischen Staatsanwälte im Jahr 2019 205 Mal gegen Polizeibedienstete in Bayern, weil diese Gewalt verübt oder zugelassen hatten. Die Zahl ist deutlich höher als die 80 Fälle von "Körperverletzung im Amt" in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Dass die beiden Statistiken sich so sehr unterscheiden, kann auf die andere Art der Erfassung zurückgeführt werden. Zum einen erfasst die Statistik der Staatsanwaltschaft anders als die der Polizei auch Fälle, in denen Polizisten die Gewalt nicht nur selbst verübten, sondern auch Menschen Gewalt aussetzten. Außerdem erfasst die PKS nur bei der Polizei angezeigte Fälle. Anzeige kann jedoch auch bei der Staatsanwaltschaft erstattet werden – eine Möglichkeit, die gerade Betroffene von Polizeigewalt womöglich vorziehen.
💡 In welchen Statistiken wird Polizeigewalt erfasst?
1. In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden die von den bayerischen Polizeidienststellen bearbeiteten rechtswidrigen (Straf-)Taten erfasst. Hier werden auch die angezeigten Fälle von "Körperverletzung im Amt" aufgeführt. Die PKS ist eine sogenannte "Ausgangsstatistik". Das bedeutet, dass in ihr nur die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie endbearbeiteten Straftaten abgebildet werden. Eine statistische Erfassung erfolgt erst bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft.
2. Die Justizgeschäftsstatistik der Staatsanwaltschaften gibt Auskunft über die Anzahl der Fälle, in denen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde. Sie weist Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen Gewaltausübung und Aussetzung gesondert aus. Darunter fallen allerdings nicht nur die "Körperverletzung im Amt", sondern auch andere Straftatbestände.
3. Die Strafverfolgungsstatistik der Justiz liefert Angaben zu den Verfahren, die zu Gericht gelangen und deren Ausgang. In der Strafverfolgungsstatistik wird aber nur nach Straftatbeständen unterschieden, nicht jedoch näher nach Verbrechensphänomenen oder Tätereigenschaften. Zu der Anzahl der in einem bestimmten Jahr in Bayern verurteilten Polizeibediensteten lassen sich der Strafverfolgungsstatistik daher keine Aussagen entnehmen. Es werden lediglich die sogenannten Amtsdelikte (wie zum Beispiel Körperverletzung im Amt) erfasst.
Die Statistik dokumentiert auch, wie die Ermittlungen ausgingen: Nur in den wenigsten Fällen kam es überhaupt zu einer Anklage. In den allermeisten Fällen (184 von 205) wurden die Ermittlungen eingestellt, weil sich kein Täter ermitteln ließ. In Bayern fordern SPD und Grüne seit Jahren eine Kennzeichnungspflicht für Polizeikräfte – sei es durch ein Namensschild oder eine Dienstnummer.
CSU und Freie Wähler lehnen eine Kennzeichnungspflicht ab. Eine Identifizierung einzelner Beamte sei in Bayern durch Dienstpläne und die regelmäßige Video-Aufzeichnung von Großeinsätzen fast immer möglich, so CSU-Innenpolitiker Manfred Ländner im Dezember 2017. Kurz zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte empfohlen, dass bayerische Polizisten eine "wahrnehmbar unterscheidbare Kennzeichnung" tragen sollten. Diese gibt es in einigen Bundesländern bereits. Das Bundesverfassungsgericht erklärte sie im vergangenen Jahr für verfassungsgemäß. Das bayerische Innenministerium lehnt eine Kennzeichnungspflicht ab, das erklärte ein Sprecher gegenüber BR24. Es gebe ausreichend Möglichkeiten einzelne Beamtinnen und Beamte zu identifizieren, so das Innenministerium. Außerdem könnt eine Kennzeichnungspflicht dazu führen, dass Polizisten "unter Generalverdacht gestellt" werden könnten, auch wenn "es dafür überhaupt keine Anhaltspunkte" gebe.
Nur wenige Verurteilungen
Doch wie sind die übrigen Verfahren ausgegangen? Zahlen dazu finden sich wiederum in der Bayerischen Strafverfolgungsstatistik: Im Jahr 2018 – dem letzten Jahr, für das Zahlen verfügbar sind – haben sich bayerische Gerichte neun Mal mit solchen Fällen beschäftigt. Drei Mal wurde ein Angeklagter verurteilt, die übrigen Male wurde der Täter oder die Täterin freigesprochen oder das Verfahren vom Gericht eingestellt.
Unklar ist auch, wie groß das Dunkelfeld bei Polizeigewalt ist. Eine erste umfassende, allerdings nicht-repräsentative Dunkelfeldstudie entsteht derzeit unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein an der Ruhr-Universität Bochum. Den Forschern zufolge haben sich nur neun Prozent aller befragten Betroffenen von Polizeigewalt für eine Anzeige entschieden. Das geht aus dem Zwischenbericht hervor. Die Forscher schätzen deshalb, dass das Dunkelfeld bei Polizeigewalt etwa fünfmal so groß sein könnte wie die Anzahl der angezeigten Fälle. Bezogen auf Bayern wären das nicht 205 Fälle pro Jahr – sondern über tausend. Allerdings gibt es an der Methodik der Studie auch Kritik. So merkt die Wochenzeitung "Die Zeit" an, dass die Auswahl der Teilnehmerinnen nicht repräsentativ sei. Es wären zu viele Menschen, die regelmäßig Demonstrationen oder Fußballspiele besuchen befragt worden, also Menschen die besonders häufig Kontakt mit Polizeikräften hätten.
Ein Grund für das zurückhaltende Anzeigeverhalten könnte sein, dass in Bayern das Landeskriminalamt, das bei Beschwerden und Anzeigen wegen Polizeigewalt ermittelt, eine Polizeibehörde ist. Deren Mitarbeiter arbeiten zwar strukturell und räumlich von der Polizei getrennt, viele haben aber vorher bei der Polizei gearbeitet und sind dort sozialisiert. Internationale Menschenrechtsgremien fordern schon seit Jahrzehnten, dass es auch in Deutschland unabhängige Beschwerdestellen bei Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei geben sollte.
Auch zum Thema Rassismus liefert die Studie erste Hinweise: Menschen, die ihrer eigenen Aussage nach nicht "typisch deutsch" aussehen, sind demnach anders von Polizeigewalt betroffen als weiße Menschen. Weil die Ergebnisse noch ausgewertet werden, kann Projektmitarbeiterin Laila Abdul-Rahman hierzu noch keine konkreten Zahlen nennen. Was sich aber bereits jetzt zeige: Menschen, die "nicht typisch deutsch aussehen", würden häufiger von der Polizei kontrolliert, berichteten häufiger über Gewalt in Polizeigewahrsam und gaben häufiger an, dass ihnen von einer Anzeige abgeraten wurde.
Das bayerische Innenministerium erklärt auf BR24 Anfrage, dass man die Studie der Ruhr-Universität Bochum mit großem Interesse verfolge und auch im Rahmen von Experteninterviews daran teilnehme. Zur aktuellen Diskussion schreibt das Ministerium:
"Die zurückliegend in der Presse thematisierten und öffentlich kontrovers diskutierten Ergebnisse zum angeblichen Dunkelfeld stellen nur einen Ausschnitt bzw. ein Teilprojekt dieser Studie dar, die aus unserer Sicht nicht isoliert betrachtet werden dürfen, basieren sie doch ausschließlich auf subjektiven Wahrnehmungen von Personen, die der Auffassung sind, Opfer von Polizeigewalt geworden zu sein. Eine seriöse Gesamtbewertung ist damit erst nach Abschluss aller Teilprojekte möglich." Bayerisches Innenministerium
Um die Diversität der Gesellschaft stärker abzubilden, spricht die Polizei seit einigen Jahren gezielt Bewerber mit Migrationshintergrund an. Seit einer Werbekampagne vor vier Jahren wurden bayernweit 200 Beamte mit nicht-deutschem Pass eingestellt. Wie viele Polizisten insgesamt aber einen Migrationshintergrund haben, wird in Bayern nicht erfasst.
Am höchsten ist der Anteil von Polizisten mit Migrationshintergrund in Berlin und Baden-Württemberg. Gut 32 Prozent der neu eingestellten Polizistinnen und Polizisten in Berlin und rund 27 Prozent in Baden-Württemberg hatten 2018 laut Mediendienst Integration ausländische Wurzeln.
Fazit: Eine genaue Definition von Polizeigewalt gibt es nicht, in der öffentlichen Debatte werden viele Phänomene darunter gefasst. Aus rechtlicher Sicht ist vor allem der Zusatz der "rechtswidrigen" Polizeigewalt wichtig, denn Polizisten dürfen unter bestimmten Bedingungen körperliche Gewalt anwenden. Entscheidend ist, dass die Gewalt "verhältnismäßig" ist - ein Grundsatz, der sich aus der Verfassung ergibt.
Wie häufig es in Deutschland zu Übergriffen oder gar Tötungen durch die Polizei kommt, ist schwer zu sagen. Laut Staatsanwaltschaftsstatistik ermittelten die bayerischen Staatsanwälte im Jahr 2019 205 Mal gegen Polizeibedienstete in Bayern, weil diese Gewalt verübt oder zugelassen hatten. Viele Verfahren wurden allerdings eingestellt, weil kein Tatverdächtiger identifiziert werden konnte. Dunkelfeldstudien lassen zudem vermuten, dass die Anzahl der Übergriffe durch Polizeikräfte deutlich höher sein könnten - nämlich fünfmal so hoch wie offiziell angenommen. Forscher der Ruhr-Universität Bochum konnten außerdem zeigen, dass Menschen, die "nicht typisch deutsch aussehen" anders von Polizeigewalt betroffen sind: Sie werden häufiger von der Polizei kontrolliert, berichteten häufiger über Gewalt in Polizeigewahrsam und ihnen wird häufiger davon abgeraten, Polizeigewalt anzuzeigen.
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Der Bayerische Rundfunk berichtet regelmäßig über Gewalt gegen Polizeikräfte und Helfer. Berichte dazu finden Sie hier, hier oder hier.
Nach Veröffentlichung des Textes wurde der Absatz über die Kennzeichnungspflicht um die Positionen bayerischer Parteien erweitert, sowie Antworten des bayerischen Innenministeriums eingearbeitet.