Die Treimers waren eine katholische Bilderbuch Familie. Die Eltern gläubig, die beiden Söhne – neun und zwölf Jahre alt – Ministranten. Als 1999 der Kaplan ihrer Kirchengemeinde in Viechtach die Söhne missbrauchte, brach für Johanna Treimer eine Welt zusammen.
"Das war unser Fundament, das uns durch alle schwierigen Lebenslagen getragen hat. Das hat angefangen zu bröckeln und wurde komplett zerstört. Auch durch unsere Familie ging ein Riss. Die Beziehung ist auseinandergegangen durch diese Umstände." Johanna Treimer
Der Täter wurde 2000 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, doch schon ein Jahr danach wieder vom Bistum Regensburg in einer Pfarrei eingesetzt. In Riekofen.
"Das hat uns dann total schockiert, vor allem dann meine Söhne, die Hauptbetroffenen, die haben gesagt: Jetzt ist Schluss mit Schweigen." Johanna Treimer
Der Geistliche durfte trotz besseren Wissens wieder mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Wieder verging er sich an Minderjährigen.
1.670 Geistliche aktenkundig
Der Fall Riekofen zeigt, wie die Kirche mit Missbrauchstätern in den eigenen Reihen umgegangen ist und warum es so viele Opfer gibt. Die Forscher gehen von mindestens 3.677 Betroffenen aus. Untersucht wurde der Zeitraum 1946 bis 2014. 1.670 Geistliche wurden in diesen Jahren als Beschuldigte aktenkundig. Als mehrere Medien vor zwei Wochen diese Zahlen veröffentlichten, war das Entsetzen außerhalb und innerhalb der katholischen Kirche groß. Als einer der ersten äußerte sich der Passauer Bischof Stefan Oster in einer Videobotschaft:
"Allzu häufig ging es um den Schutz der Institution Kirche oder um den Schutz des Priestertums. Viel zu wenig waren Betroffene im Blick. Viel zu häufig ging es um klerikale Macht, um Abhängigkeit, um Ausbeutung. Und viel zu selten um die Frage: Wie sieht es eigentlich aus hinter der Fassade?" Passaus Bischof Stefan Oster
Die Dunkelziffer liegt wohl deutlich höher
Gegen nicht einmal die Hälfte aller Beschuldigten hat die Kirche ein internes Verfahren eingeleitet. Und wenn, dann waren die Sanktionen oft harmlos und vermutlich wirkungslos. In nur 122 Fällen haben kirchliche Vorgesetzte die Justiz eingeschaltet. Die Forscher haben außerdem festgestellt, dass Personalakten immer wieder manipuliert wurden, um Täter zu schützen. Der Kölner Kardinal Reiner Maria Woelki hat deshalb angekündigt, im Erzbistum Köln keine Vertuschung dulden zu wollen. "Und wir werden im Erzbistum Köln den bereits beschrittenen Weg der Prävention weitergehen."
Orden und andere kirchliche Einrichtungen fehlen bei der Untersuchung
Die katholische Kirche will mit dieser Studie ihre Lernfähigkeit unter Beweis stellen. Doch es gibt auch Kritik: So wurden Orden und andere kirchliche Einrichtungen bei der Untersuchung nicht berücksichtigt. Dabei zeigt gerade die Missbrauchsgeschichte im Klosterinternat Ettal oder bei den Regensburger Domspatzen, dass in solchen Einrichtungen das Missbrauchsrisiko besonders hoch war. Außerdem kritisiert Ana Carola Pasquay von „Wir sind Kirche“, dass die Forscher nicht persönlich in kirchlichen Archiven recherchieren durften.
"Die Bistümer haben ihnen nicht die Akten zur Verfügung gestellt, sondern haben ihnen die Fälle gegeben. Was zwischen den Zeilen steht und was noch im Aktenschrank steht, haben die nicht gesehen." Ana Carola Pasquay von „Wir sind Kirche“
Die Forscher rechnen mit einer Dunkelziffer bei den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Die vorgelegten Zahlen seien eine „untere Schätzgröße“. Deshalb wird ein Wort heute besonders oft fallen: „Mindestens“.