Die Corona-Krise hat die evangelische und die katholische Kirche "kalt erwischt". So sagt das Matthias Pöhlmann, der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Man habe nicht gewusst, wie man sie deuten sollte. Wie schafft man es, die Menschen zu trösten und nicht in blinden Fatalismus zu verfallen? Das wird laut Pöhlmann in den Kirchen noch immer diskutiert – und gelang bisher nicht immer.
Weltverschwörungstheorie im Namen der Kirche
Das zeigt auch der öffentliche Brief vom Mai dieses Jahres mit dem Titel: "Aufruf für die Kirche und für die Welt an Katholiken und alle Menschen guten Willens" von katholischen Kirchenvertretern, der Verschwörungstheorien verbreitete. Darin ist von "Mächten der Finsternis" die Rede, die eine "Weltregierung" schaffen wollten, die sich "jeder Kontrolle" entziehe. Jahrhunderte der christlichen Zivilisation sollten "unter dem Vorwand eines Virus ausgelöscht werden, um eine verabscheuungswürdige technokratische Tyrannei aufzurichten".
Die Verschwörungserzählung von einer angeblichen "Neuen Weltordnung" ist vor allem in rechten Kreisen verbreitet und geht oft mit antisemitischen Motiven einher. Für die Behauptungen gibt es keine Beweise.
Schwerpunkt "Glaube und Corona"
Die Corona-Krise ist für jede Weltanschauung eine Herausforderung. Manche suchen sich ihre eigene Deutungsperspektive – ob Verschwörungstheoretiker, Einzelakteure aus der esoterischen Szene oder Vertreter von Großinstitutionen wie Kirchen.
Im ersten Teil dieses Schwerpunkts "Glaube und Corona" soll es darum gehen, wie Vertreter von Kirchen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland Falschinformationen verbreiten. Der zweite Teil beschäftigt sich vor allem mit rechten Esoterikern, die Verschwörungserzählungen und angebliche Gegenmittel gegen das Coronavirus propagieren.
Deutscher Kardinal unterzeichnete problematischen Aufruf
Zwar ist der oben erwähnte öffentliche Brief keine offizielle Stellungnahme der katholischen Kirche – aber von ehemaligen Amtsträgern und prominenten Stimmen verfasst: Er ist eine Initiative des früheren Päpstlichen Botschafters in den USA, Erzbischof Carlo Maria Viganò. Dieser ist ein bekannter Gegner und Kritiker von Papst Franziskus.
Den Aufruf unterschrieben neben umstrittenen Ärzten und Autoren selbsternannter "alternativer" Medien auch elf Bischöfe und Kardinäle – darunter auch Gerhard Ludwig Müller, ehemaliger Bischof von Regensburg und bis 2017 Präfekt der Glaubenskongregation. Experten sagen allerdings, dass die Unterzeichner zwar formell hohe Titel trügen, in der Kirche aber kaum mehr wichtige Rollen spielten.
Auch der bayerische Pfarrer Helmut Epp aus Immenstadt hatte den Aufruf unterzeichnet – mittlerweile nahm er das aber wieder zurück und bezog im Pfarrboten der Gemeinde Stellung.
Deutsche Kirchenvertreter distanzierten sich
Die deutsche Bischofskonferenz und zahlreiche Kirchenvertreter in Deutschland distanzierten sich ausdrücklich von dem Aufruf: Kardinal Marx zeigte sich "fassungslos" und sagte, dass die Kirche nicht die Kompetenz habe, darüber zu debattieren, was bei einer Pandemie sinnvoll sei. Und Klaus Pfeffer, Generalvikar des Bistums Essen, nannte die Aussagen im Magazin Spiegel "krude Verschwörungstheorien ohne Fakten und Belege, verbunden mit einer rechtspopulistischen Kampf-Rhetorik".
Verschwörungsmythen verschmelzen mit Religion und Esoterik
Die Erzählung einer neuen Weltordnung, die von bösen Mächten durchgesetzt werden solle, ist nicht neu. Schon seit Anfang der 1990er-Jahre kursiere vor allem in rechts-evangelikalen Kreisen, "dass so etwas wie eine Welteinheitszivilisation angestrebt wird, die dann letztlich entchristlicht ist", sagte Liane Bednarz dem BR. In ihrem Buch "Die Angstprediger" untersuchte sie, warum bestimmte christliche Gruppen besonders anfällig für rechtes Gedankengut sind.
Religionswissenschaftler Andreas Grünschloß von der Universität Göttingen untersucht den religiösen und esoterischen Umgang mit der Pandemie. Er beobachte derzeit eine Verschmelzung von Verschwörungsmythen mit esoterischem, religiösem und sonstigem spirituellen Gedankengut, die über das hinausgehe, was er in bisherigen Krisen beobachtet habe.
Corona als "Strafe Gottes" für Umweltschutz und Ehe für alle?
Viele Deutungen und Reaktionen von Glaubensgemeinschaften sind dem Religionswissenschaftler Grünschloß von früheren Krisen vertraut. Ein "Klassiker der religiösen Katastrophendeutung" sei beispielsweise, sie als Zorn Gottes zu interpretieren. In Deutschland ist dieses Narrativ nicht weit verbreitet – unter streng Evangelikalen in den USA dagegen schon.
Einer von ihnen ist Donald Trumps evangelikaler Berater Ralph Drollinger, der auch die wöchentliche "White House Bible Study Group" leitet. Er nutzt die Corona-Pandemie, um gegen Homosexuelle und die "Religion des Umweltschutzes" zu hetzen, die Grund für Gottes Zorn seien. Und der einflussreiche Prediger der konservativen Rechten Pat Robertson sagte im Christlichen Fernsehsender CBN, Gott strafe Amerika für Abtreibungen, die Stärkung von LGBTQI+-Rechten, Hollywood und Pornografie.
Bekämpfung von Sündenböcken als Ausweg
Beide Prediger implizieren, Reue könne helfen, die Corona-Krise zu beenden: Man müsse sich von den "bösen Wegen" abkehren, dann würde Gott die Gebete hören und das "Land heilen", so Robertson. Und Drollinger sagt: Die Pandemie sei eine Warnung Gottes, sich wieder dem "richtigen" Glauben zuzuwenden und statt der Umwelt, Gottes Schöpfung, wieder ihn selbst anzuhimmeln.
Sich der religiösen Ordnung zuwenden und die angeblichen Sündenböcke bekämpfen, dann werde alles automatisch wieder gut: "Das ist ein typisches Argumentationsmuster fundamentalistischer Ideologik", sagt Religionswissenschaftler Grünschloß. Schon zur HIV-Epidemie ab den 1980er-Jahren predigten Konservative, die Krankheit sei eine Strafe Gottes für die Homosexualität und eine Warnung davor.
Fundamentalistische Ideologie wie bei Dschihadisten
"Das gleiche Narrativ wird nun wieder aufgerollt", sagt Grünschloß. Die globale Katastrophe werde mit alten, konservativen und überschaubaren Sinnelementen gedeutet und biete schlichte Lösungen. "Die Komplexität der Pandemie wird auf bereits bekannte angebliche Schuldige abgewälzt." Die Folge: weitere gesellschaftliche Spaltung und das Schüren von Hass.
Ähnlich argumentieren derzeit auch Dschihadisten, die die Pandemie ebenfalls als Zorn Gottes über "Ungläubige" interpretieren – vermischt mit Antisemitismus, wegen der Vermutung einer angeblichen "zionistischen Verschwörung", Verteuflung des Kapitalismus und von China als angeblich islamfeindliches Land.
Glaube an Immunität durch Religion
Ein weitere gefährliche Argumentation zu Corona vertritt zum Beispiel der US-Fernsehprediger Kenneth Copeland: Er verbreitet den Irrglauben, dass Gläubige "Herrschaft und Autorität über Covid-19" hätten, da Jesus sie von jedem Fluch befreit hätte – Krankheiten und Seuchen eingeschlossen.
Zu Beginn der Pandemie behauptete der Schweizer Weihbischof Marian Eleganti, Weihwasser und Kommunion hätten Heilkräfte. Er glaube an die übermächtige Kraft der Gegenwart Gottes in der Hostie, sagte er. "Wie kann ich mir vom Kommunionempfang Unheil, Ansteckung erwarten?" Dass keine Gottesdienste mehr stattfanden, bezeichnete er als "Kapitulation des Glaubens vor dem Virus". Andere Schweizer Geistliche kritisierten ihn für diese Aussagen.
Auch buddhistische und muslimische Geistliche geben gefährliche Tipps
Auch der buddhistische Meister Wei Chueh verkündete schon 2003 zur SARS-Epidemie: "Wenn unser Geist so frei von Krankheiten ist, dann wird auch die äußere Welt frei von Krankheiten sein. Wenn unser Geist rein ist, dann wird die äußere Welt zu einem reinen Land." Man dürfe "nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge mit der Welt der Epidemie" sein. Diese Aussagen verbreitete das Portal "Buddhismus Aktuell" nun in der Corona-Pandemie erneut. Auch einzelne muslimische Gemeinden propagierten, nur Ungläubige müssten sich vor dem Virus fürchten – Gläubige seien sozusagen immun.
Allein auf den Schutz Gottes zu vertrauen und sich nicht zusätzlich an die Regeln der medizinischen Experten und Regierungen zu halten, kann lebensgefährlich sein: "Glaube und Religiosität können zwar durchaus helfen, mindestens subjektiv", sagt Grünschloß. "Aber problematisch wird es, wenn man allein auf den Glauben als Wunderwaffe oder Immunitätsspender vertraut."
Deutsche vertrauen der Wissenschaft mehr
Die evangelikale Szene ist in Deutschland bei weitem nicht so stark wie in den USA – und auch nicht so politisiert, da sind sich der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen Matthias Pöhlmann und Religionwissenschaftler Grünschloß einig. "Wir haben in Deutschland wie in vielen anderen Ländern Europas eine relativ nachhaltige Säkularisierung, sodass der Zulauf zu alternativen Freikirchen nicht so groß ist wie in vielen anderen Ländern", sagt Grünschloß. Viele Menschen vertrauen ihm zufolge auf die Wissenschaft; der Glaube hat nicht mehr die höchste Deutungsmacht. Aber trotzdem: "Auch bei uns haben Verschwörungstheorien eine große Aufmerksamkeit gefunden, und sie werden teilweise sogar von frommen Kreisen übernommen", so Pöhlmann.
Freikirche in Baden-Württemberg verbreitet Falschinformationen
Die vereinzelten Gemeinden, von denen bekannt wurde, dass sie sich über Kontaktbeschränkungen hinwegsetzten oder propagierten, Glaube schütze vor Ansteckung, sind laut Grünschloß hierzulande eher kleinere Gruppierungen und freikirchliche Gemeinschaften. Ein Pfarrer einer evangelischen Freikirche in Riedlingen, die zum Netzwerk bibeltreuer Christen gehört, predigte über YouTube wiederholt Verschwörungstheorien.
Er propagiert darin Misstrauen gegenüber Medien und behauptet, "globale antichristliche Eliten" hätten das Coronavirus bewusst "freigesetzt", um eine "antichristliche Weltherrschaft" einzuleiten – was an das Schreiben der katholische Bischöfe und Kardinäle erinnert.
Auch behauptet der freikirchliche Pfarrer, die geschlossenen Grenzen würden nicht für Asylbewerber gelten und es würden weiterhin Migranten "aus sicheren Drittstaaten" eingeflogen. Als Quellen zitiert der Riedlinger Prediger selbsternannte "alternative Medien wie "Journalistenwatch". Das ist ein altes Narrativ der Rechten, das immer wieder aufgewärmt wird – auch in Coronazeiten. Diese Behauptungen sind falsch.
Corona als Vorbote der "Endzeit"
Die düsteren Prognosen des Riedlinger Pfarrers: Es werde bald kaum mehr bezahlbare Lebensmittel geben, zudem werde noch "viel Wüsteres als Covid-19 über uns gebracht", sowie ein Viertel der Weltbevölkerung in kurzer Zeit sterben - das erinnert an endzeitliche Szenarien.
Grünschloß spricht hier von einer "Radikalisierung der Krise", in der die Corona-Pandemie zu einem "endzeitlichen Alaramsignal" stilisiert werde. Das ist nicht neu: Manche Glaubensgruppen sahen Katastrophen schon in der Vergangenheit immer wieder als Vorboten einer nahen Endzeit – zum Beispiel bei Tschernobyl. Und nun in der Corona-Pandemie. Sie nutzen die Krise, um die eigene Perspektive auf die Welt weiter zu bestätigen.
Die Gefahr: Endzeitliche Gruppen könnten in Krisenzeiten den Stress verstärken und die Pandemie als "unausweichliches Schicksal" darzustellen, so Grünschloß. "Das ist alles andere als stabilisierend für Menschen, die daran glauben. Es verleitet zu Angst."
Sektenanhänger von unsinnigen Theorien nicht abzubringen
Die Studie "When prophecy fails" der University of Minnesota zeigt, dass die Glaubensgemeinschaften nicht einmal fürchten müssen, dass die Gläubigen sich abwenden, wenn die Vorhersage der Endzeit nicht eintritt: Bei dem untersuchten Beispiel einer Endzeit-Theorie, nach der angeblich UFOs alle Gläubigen holen sollen, verkrafteten die Anhänger es relativ gut, dass das nie passierte.
"Es ist psychisch einfacher, das Nichteintreten der Prophezeihung zu rationalisieren und zu sagen 'Die Gebete haben geholfen, Aufschub zu bekommen' als sich einzugestehen, dass man Unsinn geglaubt hat", sagt Grünschloß. Auch bei den Zeugen Jehovas, Fiat Lux und der Neuapostolischen Kirche habe sich das gezeigt.
FAZIT
Einzelne Vertreter verschiedener Kirchen und Glaubensgemeinschaften verbreiten Falschinformationen und Verschwörungserzählungen. Das reicht von Schuldzuweisungen an die üblichen Sündenböcke der strengkonservativen Evangelikalen über Theorien einer angeblichen "neuen Weltordnung" bestimmter katholischer Geistlicher bis hin zu endzeitlichen Szenarien bei einigen Sekten, die nun auf Corona umgedeutet werden.
Im zweiten Teil zeigen wir, wie die Corona-Krise rechten Esoterikern Auftrieb verschafft.
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