"Wir wollen Gerechtigkeit"

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Schreiben als Drahtseilakt: Alltag türkischer Journalisten

Deniz Yücel ist frei. Aber mehr als hundert türkische Journalisten sind immer noch im Gefängnis – wegen ihrer Arbeit. Unter ihnen sind auch Mitarbeiter der türkischen Zeitung Cumhuriyet. Ein Besuch in der Redaktion. Von Karin Senz

Auch wenn viele ihrer Kollegen im Gefängnis sitzen - die Journalisten im Istanbuler Verlagshaus der Zeitung Cumhuriyet arbeiten trotzdem weiter - unter enormem Druck. Schließlich ist ihre Zeitung nicht nur eine der ältesten des Landes, sondern auch eine der wenigen regierungskritischen, die noch übrig sind. Natürlich haben sie ihren Kollegen Deniz Yücel am Wochenende auf die Titelseite gesetzt, aber auch die Fotos von drei türkischen Journalisten, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden.

Vor dem Eingang des Verlagshauses der Cumhuriyet in Istanbul stehen große Absperrgitter, "Polis" steht drauf. Drinnen Sicherheitsschleusen. In der Redaktion brütet Nazan Özcan gerade über der Titelseite für den nächsten Tag. "Das ist total schwer, denn unser Chefredakteur ist im Gefängnis. Wäre er da, würde ich ihn fragen: Geht das so oder nicht? Aber jetzt kann ich mich nur noch an internationalen journalistischen Richtlinien orientieren", sagt Nazan Özcan, Redakteurin bei Cumhuriyet.

Chefredakteur im Gefängnis

Es ist eine Gratwanderung, jeden Tag aufs Neue. Denn die Cumhuriyet ist eine der wenigen regierungskritischen Zeitungen in der Türkei, die noch übrig geblieben sind. Nazans Chefredakteur ist nicht der einzige Kollege, der im Gefängnis sitzt, gegen andere laufen Verfahren. Was, wenn auch sie verhaftet wird?

"Ich will mir diese Frage gar nicht stellen. Denn wenn ich mich das jeden Tag fragen würde, könnte ich meinen Job nicht machen. Und ich sag' mir immer, ich bin nicht so wichtig. Ich bin nur eine ganz normale Journalistin. Aber klar, das kann mir auch passieren", sagt Nazan Özcan, Redakteurin bei Cumhuriyet.

Im Gefängnis könnte die junge Redakteurin nicht mehr schreiben. Ihr Chef Aydin Engin war schon mehrmals im Gefängnis, insgesamt kommt der 77-Jährige auf gut sechseinhalb Jahr: "Ich habe in meinem Beruf drei Militärputsche erlebt. Jedes Mal nach dem Militärputsch war ich im Gefängnis. Nur wegen meiner journalistischen Arbeit. Deshalb ist die Schmerzgrenze hoch."

Verlag in Gefahr

Er lehnt sich kurz zurück in seinen abgenutzten Sessel. Sein Schreibtisch steht in einer Ecke eines großen Sitzungsraums. Alles ist in die Jahre gekommen, für neue Möbel und hohe Gehälter ist kein Geld da, erzählt er. Neben einer Verhaftung droht auch immer, dass der Verlag geschlossen beziehungsweise übernommen wird, erzählt Engin. Man habe schon versucht, sie zu kaufen.

"Wir sind nicht verkäuflich. Aber die Gefahr ist nicht vorbei. Erdogan oder die AKP-Regierung können viele Mittel gegen uns einsetzen, zum Beispiel Zwangsverwalter. Wir haben riesige Solidarität gekriegt aus Europa, fast von der ganzen Welt. Aber wenn wir so weitermachen, kann die Regierung versuchen, diesen Zwangsverwalter formell durchzusetzen." Das macht ihm dann doch Sorgen. Was würde dann aus den vielen mutigen Journalisten in seiner Redaktion? Nur wenige haben gekündigt, weil sie den Druck nicht aushalten. Auch Nazan Özcan will durchhalten, sagt sie und sieht dabei sehr müde aus.

"Es ist einfach unglaublich anstrengend und bedrückend, aber im selben Moment fühlt es sich auch gut an. Denn du machst was sehr Wichtiges. Und eines Tages werden junge Journalisten vielleicht sagen: Die bei Cumhuriyet haben durchgehalten für unsere Rechte."

Yücel ist frei - drei andere Journalisten zu lebenslang verurteilt

Am Tag nach Deniz Yücels Freilassung haben sie natürlich das Foto von ihm und seiner Frau vor dem Gefängnis auf die Titelseite genommen – aber auch die Fotos der drei türkischen Journalisten, die parallel zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Es sind schizophrene Zeiten für Journalismus, sagt die Cumhuriyet-Redakteurin. Dabei wirkt sie klein und zerbrechlich an ihrem Schreibtisch.

Aydin Engin sitzt einen Stock darüber. Er schreibt an einer Kolumne über diesen Tag. Jeder Tag ist wie gestern, ist der Titel. Gemeint sind die schizophrenen Zeiten. Wann die zu Ende sind?

"Ganz ehrlich, weiß ich nicht. Aber wir wollen weitermachen für die Demokratie, für die Pressefreiheit, für die Meinungsfreiheit. Ich weiß nicht, ob wir gewinnen. Ich und meine Kollegen bei Cumhuriyet, wir leben Tag für Tag2, sagt Aydin Engin, Redakteur bei Cumhuriyet. Dabei ballt der 77-Jährige immer wieder die Faust, als wollte er unterstreichen: Er wird kämpfen, so lange er schreiben kann.