Alan Kurdi, Lifeline, Sea-Watch 3… Schiffsnamen, die in den letzten Monaten Teil der öffentlichen Diskussion geworden sind: Im Mittelmeer gibt es private Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), die sich die Seenotrettung auf die Fahnen geschrieben haben. Zwar wurde die offizielle EU-Rettungsmission "Sophia" bis zum 30. September 2019 verlängert, allerdings findet die Überwachung des Mittelmeers mittlerweile nicht mehr mit Schiffen, sondern nur noch aus der Luft statt. Bleibt die Frage, wer denn nun in Seenot geratene Menschen auf dem Mittelmeer rettet oder retten muss – und wohin man die Menschen bringen kann.
Das Seerecht: Jedes Schiff muss retten
Im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) von 1982 sowie in den Vorgaben des Internationalen Übereinkommens zur Seenotrettung von 1979 (SAR-Konvention, SAR steht für "Search and Rescue") und des Internationalen Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See von 1974 (SOLAS) ist die Seenotrettung geregelt. Nach Art. 98 SRÜ hat jeder Kapitän die Pflicht, Schiffbrüchigen in Seenot Hilfe zu leisten.
Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein privates oder staatliches Schiff handelt, das in Notlage geratene Menschen rettet. Es ist rechtlich gesehen unerheblich, ob eine NGO gezielte Seenotrettung durchführt oder ein Schiff zufällig die in Seenot geratenen Menschen aufnimmt. Aus dem Seerecht geht nicht hervor, wer nicht retten darf. Aus der SAR-Konvention geht aber hervor, im Rahmen der Seenotrettung dürfe nicht anhand von Staatsangehörigkeit, Herkunft und Hintergründen differenziert werden.
Dürfen private Schiffe vor der Küste anderer Länder patrouillieren?
Was die territorialen Verantwortlichkeiten der Seenotrettung angeht, ist das Seerecht nicht immer eindeutig. Das Territorialprinzip sagt, dass alle Personen den Gesetzen des Staates unterworfen sind, auf dessen Territorium sie sich befinden. Das Küstenmeer (bis 12 Seemeilen vom Ufer eines Staates entfernt, das sind umgerechnet rund 22 Kilometer) gehört zum Hoheitsgebiet des jeweiligen Staates. Laut Alexander Proelß vom Lehrstuhl für internationales Seerecht der Universität Hamburg ist aber nicht geregelt, ob private Schiffe mit der alleinigen Intention der Seenotrettung in diesem Gebiet agieren dürfen.
In jedem Fall besteht ein ungehindertes Durchfahrtsrecht ausländischer Schiffe im Küstenmeer eines anderen Staates, einschließlich eines Rechts auf Ankern. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestags beschäftigte sich näher mit den verschiedenen Aspekten des Territorialprinzips. Demnach diene "das Durchfahrtsrecht allein dem Zweck, das Territorialgewässer ohne Unterbrechung zügig zu durchqueren oder eine Hafenanlage anzulaufen".
Ein Patrouillieren ausländischer Seenotrettungsschiffe im libyschen Küstenmeer wäre demnach, so steht es in dem Papier, als Verletzung des Territorialprinzips zu werten. Liege jedoch ein konkreter Seenotfall vor, dann greife die allgemeine Pflicht zur Seenotrettung. Diese sei nicht auf die Gewässer der Hohen See beschränkt, sondern erstrecke sich auch auf das Küstenmeer.
Wie wird die Seenotrettung im Mittelmeer koordiniert?
Außerhalb des Küstenmeers eines Staates sind die Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Seenotrettung dazu angehalten, die jeweiligen Meeresgebiete in Abstimmung mit ihren Anrainerstaaten aufzuteilen und zu gewährleisten, dass Notrufe möglichst flächendeckend und effektiv registriert und bearbeitet werden können. Im Falle des Gebiets zwischen Italien, Malta, Tunesien und Libyen sieht das so aus:
Die Vertragsstaaten verpflichteten sich in einem Zusatz der oben erwähnten SAR-Konvention dazu, in Abstimmung mit ihren Anrainerstaaten sogenannte SAR-Zonen einzurichten und gegenüber dem Generalsekretär der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) zu melden. Auf diese Weise soll die Pflicht zur Seenotrettung aus Art. 98 (2) möglichst flächendeckend und effektiv organisiert werden. Dazu müssen die Staaten unter anderem über eine eigene oder eine in Partnerschaft mit einem anderen Staat betriebene Seenotrettungs-Leitstelle verfügen.
Funktioniert die libysche Rettungszone?
Libyen konnte dem aus eigener Kraft lange nicht nachkommen - aufgrund der diffusen politischen Situation nach dem Sturz Gaddafis 2011. Seit der Flüchtlingskrise 2015 versuchen die EU und insbesondere Italien, die libysche Küstenwache in ihrem Aufbau mit Material und Training zu unterstützen. Davon verspricht man sich, dass weniger seeuntaugliche Flüchtlingsboote auf das offene Meer und weniger Migranten nach Italien gelangen.
Seit vergangenem Jahr gibt es wieder eine offizielle SAR-Zone, für die Libyen zuständig ist. Die Seerettungsorganisation "Sea-Watch e.V." teilte auf BR24-Anfrage mit, man halte die - Zitat - "sogenannte libysche Küstenwache" für nicht ausreichend ausgerüstet: Boote bräuchten zu lange zum Einsatzort und verfügten nicht über genügend Rettungswesten. Die libysche Seenotrettungsleitstelle sei zudem nur schwer erreichbar, "von neun uns bekannten Telefonnummern wird selten ein Anruf entgegengenommen, oft ist dann die einzige Aussage 'no english'", schrieb ein Sprecher von "Sea-Watch" in einer Mail an BR24. Das deckt sich auch mit Recherchen von BR24. Bei einer der beiden bei der IMO hinterlegten libyschen Nummern des "Rescue Coordination Centre" ging niemand ans Telefon, bei der anderen wurden wir auf Arabisch an eine dritte Nummer verwiesen, bei der abermals niemand abhob. "Sea-Watch" erklärt auf seiner Website, warum die Kommunikation mit den Rettungsleitstellen wichtig ist.
"Wenn wir selbst ein Boot in Seenot entdecken, sammeln wir so viele Informationen wie möglich und informieren die Behörden. Diese reagieren umgehend und weisen uns entweder an, Rettungsmaßnahmen einzuleiten oder sie informieren uns darüber, wer die Verantwortung übernimmt, zum Beispiel, wenn sich ein anderes Schiff näher am Einsatzort befindet oder wir bereits in eine andere Rettung verwickelt sind." Sea-Watch e.V.
Die italienische Seenotrettungsleitstelle stand zuletzt immer wieder in der Kritik. Im Rahmen der EU-Operation "Sophia" soll sie zuletzt keine Notrufe mehr an EU-Militärschiffe weitergeleitet haben, sondern nur noch an die libysche Küstenwache, wie das Magazin "Der Spiegel" von hochrangigen Marineoffizieren erfahren haben will. Laut "Sea-Watch" ist dies auch heute noch der Fall. Bei der Meldung eines Notfalls würden die italienische und die maltesische Leitstelle regelmäßig erklären, nicht zuständig zu sein und stattdessen auf die libysche Küstenwache verweisen.
Der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation müssen SAR-Zonen lediglich gemeldet werden. Kontrollen oder gar Feedback, ob die Staaten ihre SAR-Zonen tatsächlich den Vorgaben entsprechend aufrechterhalten können – dafür sei die IMO nicht zuständig, das müssten die Staaten untereinander abstimmen, teilte die Behörde auf BR24-Anfrage mit.
Warum werden die Geretteten nicht zurück nach Libyen gebracht?
Laut einem Zusatz des UN-Seerechtsübereinkommens dürfen Gerettete nur in einen "sicheren Hafen" gebracht werden. Mit Blick auf Libyen gibt es widersprechende Einschätzungen. Die Situation für Flüchtlinge in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Land sei desaströs, betont etwa das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Immer wieder gibt es Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Flüchtlingslagern. Bei einem Luftangriff Anfang Juli wurde eine Halle mit Flüchtlingen direkt getroffen. Dabei sollen mindestens 53 Menschen getötet worden sein. Ebenfalls Anfang des Monats kritisierten deutsche Diplomaten die Zustände in den Lagern scharf. Dort gebe es "allerschwerste Menschenrechtsverletzungen".
Die italienische Regierung hingegen spricht von stabilen Verhältnissen in Libyen und fordert genau wie die Kritiker der Seenotrettung, dass auf dem Mittelmeer in Sicherheit gebrachte Menschen nach Libyen zurückgebracht werden müssen. Oberste Prämisse in Rom ist dabei stets, die illegale Migration nach Italien zu stoppen.
Laut Amnesty International werden auch in Tunesien Menschenrechtsverletzungen begangen. Auch dieses nordafrikanische Land steuern die NGOs daher nicht an.
Die Regelungslücke im Seevölkerrecht
Das derzeit größte rechtliche Problem der Seenotrettung im Mittelmeer besteht in der Uneindeutigkeit der rechtlichen Lage im Bereich der sicheren Häfen. Zwar sind Staaten für die Koordinierung oder Weiterleitung von Rettungsmaßnahmen verantwortlich und ein jedes Schiff muss Menschen in Not helfen – der angesteuerte Hafen und der angesteuerte Staat muss das jeweilige Schiff aber nicht einlaufen lassen und kann seine Häfen schließen. Im Falle Italiens liegt die Entscheidungshoheit darüber, welche Rettungsschiffe die italienischen Häfen anlaufen dürfen, gemäß dem erst kürzlich eingeführten "Sicherheitsdekret" bei Innenminister Matteo Salvini.
"Die Küstenstaaten verfügen hinsichtlich der Frage, ob sie die Einfahrt fremder Schiffe in ihre Häfen gestatten, vielmehr über einen weiten Einschätzungsspielraum. Hier liegt eine Regelungslücke im Seevölkerrecht vor." Alexander Proelß vom Lehrstuhl für internationales Seerecht der Universität Hamburg
Ein Recht zur Einfahrt in einen Hafen gelte, wenn das gewohnheitsrechtliche Nothafenrecht greife, also wenn es an Bord zum Beispiel wegen Wassermangels oder medizinischer Probleme zu einer Gefährdung von Leib und Leben der Geretteten oder der Besatzung kommt. Auf dieses Nothafenrecht hatte sich auch Sea-Watch-3-Kapitänin Carola Rackete berufen, als sie in den Hafen von Lampedusa einfuhr. Hierbei müsse man, laut Seerechts-Experte Proelß, dem Kapitän einen Beurteilungsspielraum einräumen.
Fazit:
Bei einer Notsituation auf See muss Hilfe geleistet werden. Was die territorialen Gegebenheiten einer Seenotrettung angeht, gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen. Das gleiche gilt bei der Rückführung von aus Seenot Geretteten nach Libyen: Private Seenotretter sagen, durch die Menschenrechtsverletzungen in libyschen Flüchtlingslagern sei dies ausgeschlossen – auf der anderen Seite stehen Kritiker oder auch die italienische Regierung, aus deren Sicht eine Rückführung nach Libyen kein Problem darstellt. Ein weiterer ungeklärter Widerspruch ist der Umstand, dass Staaten zwar Seenotrettung gewährleisten sollen, ihre Häfen aber schließen können. Das Nothafenrecht eines Kapitäns wird so infrage gestellt.