Tausende haarfeine Risse entdeckten Fachleute 2012 im Reaktordruckbehälter des Kernkraftwerks Tihange 2. Der sogenannte "Riss-Reaktor" befindet sich 50 Kilometer entfernt von der deutschen Grenze. Auch in Deutschland hatte es Proteste gegen das AKW gegeben. Ab Mittwoch wird Belgiens umstrittenster Atomreaktor Geschichte sein: Dann hat der Betreiber Engie den zweiten Block im Kernkraftwerk Tihange nach genau 40 Jahren Laufzeit abgeschaltet.
Deutsche Politiker und Atomkraftgegner begrüßen die Abschaltung. Sie kämpften jahrelang für das Aus des Reaktors rund 50 Kilometer von der deutschen Grenze. Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke hatte sich im Vorfeld positiv geäußert. Die Stilllegung "sorgt für deutlich mehr Sicherheit in unseren beiden Ländern", sagte die Grünen-Politikerin der "Rheinischen Post".
Aktivisten befürchteten Bersten des Reaktors von Tihange 2
Walter Schumacher vom Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie berichtet, in seinem Umfeld hätten einige bis zuletzt nicht an die Abschaltung geglaubt. Der pensionierte Mathematiker engagiert sich seit Jahren für das Ende des "Riss-Reaktors" bei Lüttich, wie er bei Atomkraftgegnern heißt. 2017 wurden in der Region für den Fall eines Reaktor-Unfalls bereits Jodtabletten verteilt.
Schumacher und die anderen Aachener Aktivisten fürchteten nach seinen Worten, der Meiler Tihange 2 könne "bersten" und dann eine radioaktive Wolke nach Westen ziehen, "die Aachen vernichtet". Gefahr drohte auch von einem belgischen Reaktor gleicher Bauart bei Antwerpen. Dieser ging bereits Ende September endgültig vom Netz.
"Tihange 2 gehört zu den gefährlichsten Atomanlagen weltweit", erklärte der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Harald Ebner (Grüne). Der Meiler verliere "seit 2005 radioaktives Wasser" und habe bereits mehrere Störfälle gehabt. Wegen solcher Risiken sei es "uneingeschränkt richtig, dass Deutschland zum 15. April endgültig aus der Atomkraft aussteigt".
Belgien führte keine Umweltverträglichkeit des AKWs durch
Mit der Abschaltung der beiden Pannenreaktoren geht nicht nur eine Ära der Angst, sondern auch mehr als ein Jahrzehnt juristischer Streitigkeiten zu Ende. Denn Belgien ließ die "Riss-Reaktoren" zunächst weiterlaufen, ohne die Nachbarländer anzuhören und ohne die Umweltverträglichkeit zu prüfen - widerrechtlich, wie unter anderem der Europäische Gerichtshof urteilte. In Deutschland stieß dies auf Kritik bis hin zur Bundesregierung, auch in Luxemburg und den Niederlanden protestierten Atomkraftgegner.
Nicht nur Nordrhein-Westfalen wird durch das Aus für die Pannenmeiler sicherer, wie Landes-Umweltminister Oliver Krischer (Grüne) betont. Einen Wermutstropfen sieht der Grünen-Politiker allerdings. Denn eigentlich wollte Belgien 2025 ganz aus der Kernkraft aussteigen und damit dem deutschen Beispiel folgen. Das sah ein bereits 2003 beschlossenes Ausstiegs-Gesetz vor.
Proteste gegen Abschalten des Atomkraftwerks während der Energiekrise
Doch der Ukraine-Krieg und die Energiekrise haben auch im Nachbarland zu einer Zeitenwende geführt. Horrende Gas- und Stromrechnungen sowie die Furcht vor flächendeckenden Stromausfällen veranlassten die Regierung von Ministerpräsident Alexander De Croo, die Notbremse zu ziehen.
In der Nähe des Kraftwerks Tihange an der Maas südwestlich von Lüttich protestierten nun auch deshalb nach Angaben des belgischen Nachrichtensenders LN24 rund 150 Menschen gegen die Abschaltung. "Kernkraftwerke mitten in der Klima- und Energiekrise abzuschalten, ist eine sehr schlechte Idee", erklärte der deutsche Verein Nuklearia, der die Kundgebung unterstützte. Auch der Vorsitzende der flämischen Separatisten-Partei N-VA und Bürgermeister von Antwerpen, Bart de Wever, nahm an der Kundgebung teil. Er kritisierte das "überstürzte" Herunterfahren des Meilers. Im Ukraine-Krieg sei die Atomkraft eine Frage der europäischen Sicherheit, sagte er LN24.
Was passiert mit Belgiens restlichen Kernkraftwerken?
In Belgien regiert eine "Ampel plus" aus Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten sowie flämischen Christdemokraten, dort wurde die Atomdebatte zeitweise noch erregter geführt als in Deutschland. Zu Jahresbeginn folgte dann die Grundsatzeinigung: Die Brüsseler Regierung verabredete mit dem Atompark-Betreiber Engie, die beiden jüngsten Reaktoren zehn Jahre länger laufen zu lassen, also bis 2035. Bei ihrer Abschaltung dürften sie dann 50 Jahre auf dem Buckel haben.
Zuletzt deckten die belgischen Kernkraftwerke rund die Hälfte des nationalen Strombedarfs. Die Abschaltungen sind auch umstritten, da zunächst fossiles Gas die Lücke schließen soll. Das ist klimaschädlich, während Atomenergie aus Sicht der Befürworter "sauber" ist. Zudem hat das hoch verschuldete Belgien deutlich weniger Spielraum als etwa Deutschland, teures Gas auf dem Weltmarkt zu kaufen. In Aachen sorgt das Reaktor-Aus zwei Wochen vor Karneval dennoch für gute Laune. Karnevalesk klingt auch das Motto der Feiern, die Atomkraftgegner in der Domstadt angekündigt haben. Es lautet: "Tihange zwei: aus und vorbei."
- Zum Artikel: "Wie gefährlich ist ein Atomkraftwerk für die Gesundheit?"
Mit Informationen von AFP und dpa.
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