Nach den tödlichen Schüssen während einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas in Hamburg gehen die Ermittlungen zu der Bluttat weiter. Der Todesschütze, der sich selbst tötete, stammt aus Memmingen und wuchs nach Behördenangaben im Kempten auf.
Bei den Todesopfern handelt es sich um vier Männer und zwei Frauen sowie um ein ungeborenes 28 Wochen altes Mädchen. Das sagte der Leiter des Hamburger Staatsschutzes, Thomas Radszuweit. Weitere acht Menschen wurden bei der Tat verletzt, davon vier lebensbedrohlich. Die Polizei stufte die Tat nach Informationen aus Sicherheitskreisen als Amoklauf ein. Ein Hinweisportal wurde eingerichtet.
Hinweise auf psychische Erkrankung des Schützen
Der Täter wurde laut Medienberichten in Memmingen geboren und studierte später in München. Seit dem Jahr 2015 war er in Hamburg gemeldet. Laut Polizei erhielt er dort als Sportschütze im vergangenen Dezember eine Waffenbesitzkarte, weshalb sein Name in den Datenbanken der Behörden auftauchte. Seit dem 12. Dezember sei er im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole gewesen, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. Dabei habe es sich um die Tatwaffe gehandelt.
Im Januar hatte die Hamburger Waffenbehörde einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung des 35-jährigen Mannes erhalten. Laut dem Schreiben hatte der Täter auch eine besondere Wut auf die Zeugen Jehovas und auf seinen ehemaligen Arbeitgeber. Eine Standardkontrolle sei aber ohne relevante Beanstandungen geblieben. Als Extremist war der Schütze nach Angaben aus Sicherheitskreisen nicht bekannt.
Früherer Fußballfreund erinnert sich an "ruhigen Mitspieler"
Ein früherer Fußballkollege aus Kempten erinnert sich: "Er hat damals eine Banklehre gemacht und war ein ganz unauffälliger und ruhiger Spieler", erzählt Thomas Wilhelm, damaliger Vereinsvorstand des Fußballclubs in dem der spätere Amokläufer spielte. Weder negativ noch positiv sei dieser im Verein aufgefallen. "Der war ganz normal – einer mit dem man sich nach dem Spiel auch mal zusammensetzt und ein Bierle trinkt", sagte Wilhelm dem BR. Die Nachricht, dass sein ehemaliger Mitspieler für den Amoklauf in Hamburg verantwortlich sein soll, hat seinen früheren Bekannten nach eigenen Worten schockiert.
Täter war früher Gemeindemitglied - Interne Konflikte möglich
Der 35-Jährige war laut Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde früher Mitglied der Zeugen Jehovas. Die Hamburger Gemeinde habe er vor eineinhalb Jahren freiwillig - aber offensichtlich nicht im Guten - verlassen. Die Ermittler schließen Konflikte innerhalb der christlichen Sondergemeinschaft nicht aus. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sagte, es gebe Hinweise auf einen Streit "möglicherweise aus dem Bereich der Zeugen Jehovas". Das müsse geprüft werden, in den Akten habe man dazu nichts gefunden.
Amoklauf begann nach dem Gottesdienst
Nach Angaben eines Sprechers der Glaubensgemeinschaft begann der Amoklauf nach dem regulären Gottesdienst am Donnerstag. Dieser habe um 19 Uhr angefangen und sei digital übertragen worden. 36 Menschen seien vor Ort gewesen, weitere 25 hätten sich digital zugeschaltet, sagte Michael Tsifidaris, Sprecher der Zeugen Jehovas in Norddeutschland. Um 20.45 Uhr sei die Veranstaltung beendet worden: "Man befand sich in den Gesprächen nach dem Gottesdienst."
Dann habe der Anschlag begonnen. Eine Besucherin sei bereits auf dem Nachhauseweg gewesen, als der Täter nach Angaben der Polizei zehn Schüsse auf ihr Auto auf dem Parkplatz am Gebäude abgab. Die Frau habe mit dem Wagen leicht verletzt flüchten und sich bei der Polizei melden können, sagte der Leiter der Schutzpolizei, Matthias Tresp. Nach seinen Angaben befanden sich zum Zeitpunkt des Amoklaufs 50 Gäste in dem Versammlungsgebäude im Stadtteil Alsterdorf.
Einsatzkräfte verhinderten noch Schlimmeres
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) sagte: "Eine Amoktat dieser Dimension – das kannten wir bislang nicht. Das ist die schlimmste Straftat, das schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt."
Laut Grote haben die Hamburger Einsatzkräfte Menschenleben gerettet. "Wir haben es mit aller höchster Wahrscheinlichkeit dem sehr, sehr schnellen und entschlossenen Eingreifen der Einsatzkräfte der Polizei zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind", sagte der SPD-Politiker.
Kanzler, Innenministerin und Bürgermeister erschüttert
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte bei Twitter auf den mutmaßlichen Amoklauf. "Schlimme Nachrichten aus Hamburg", schrieb Scholz. Seine Gedanken seien bei den Opfern und Angehörigen. "Und bei den Sicherheitskräften, die einen schweren Einsatz hinter sich haben." Scholz selbst war bis 2018 Erster Bürgermeister von Hamburg.
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zeigte sich erschüttert über die Tat. "Meine Gedanken sind in dieser schweren Stunde bei den Opfern und ihren Angehörigen, bei den Gemeindemitgliedern und auch bei den Einsatzkräften", sagte Faeser der Deutschen Presse-Agentur. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) äußerte sich ebenfalls bestürzt: "Den Angehörigen der Opfer gilt mein tiefes Mitgefühl."
Nachbarin berichtet von vielen Schüssen
Eine Nachbarin berichtete von mehreren Schüssen bei der Veranstaltung der Zeugen Jehovas. "Es waren ungefähr vier Schussperioden. In diesen Perioden fielen immer mehrere Schüsse, etwa im Abstand von 20 Sekunden bis einer Minute", berichtete die Frau. Später seien Menschen von Polizisten an Händen und Füßen auf die Straße getragen worden. Vier Stunden nach den tödlichen Schüssen betrat schließlich die Spurensicherung in der Nacht den Tatort.
Zeugen Jehovas: "Tief betroffen"
Die Zeugen Jehovas zeigten sich "tief betroffen von der schrecklichen Amoktat" auf ihre Versammlungsstätte in Hamburg. "Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen", erklärte die christliche Sondergemeinschaft in der Nacht zum Freitag. "Die Seelsorger der örtlichen Gemeinde tun ihr Bestes, ihnen in dieser schweren Stunde Beistand zu leisten."
Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Sondergemeinschaft mit eigener Bibel-Auslegung. Die Anhänger glauben an Jehova als "allmächtigen Gott und Schöpfer" und sollen sich strengen Vorschriften unterwerfen. Sie sind davon überzeugt, dass eine neue Welt bevorsteht und sie als auserwählte Gemeinde gerettet werden. Weltweit haben die Zeugen Jehovas etwa acht Millionen Mitglieder. Die "Weltzentrale" ist in New York. Die deutsche Gemeinschaft mit weniger als 200.000 Mitgliedern gehört zu den größten in Europa.
- Zum Artikel: Wer sind die Zeugen Jehovas?
Mit Informationen von dpa und AFP
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels wurden die Zeugen Jehovas als "christliche Religionsgemeinschaft" und "Glaubensgemeinschaft" bezeichnet. Tatsächlich ist "christliche Sondergemeinschaft" das passendere Wort, wie uns mehrere Experten bestätigt haben. Das geht auch aus dem Lexikon der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen hervor.
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