Es sind Trends, die in fast allen europäischen Ländern zu beobachten sind: "Wir sehen den Abstieg der einstigen Volksparteien, den Aufstieg neuer, populistischer Parteien von links wie von rechts und das Erstarken euroskeptischer Parteien", sagt Prof. Gabriele Abels von der Universität Tübingen. Die Folgen: instabile Bündnisse und schwierige Regierungsbildungen. Wie haben andere europäische Länder auf diese Umwälzungen im politischen System reagiert?
Österreich: Zwei ungleiche Partner
Im Februar 2020 gehen österreichische Politikerinnen und Politiker ein Experiment ein, von dem in Deutschland schon lange gesprochen wird: Konservative und Grüne in einer Regierung. Der ÖVP-Chef und damalige Kanzler Sebastian Kurz nannte es so: "Mit den Grünen gibt es die Chance, das Beste aus beiden Welten zu vereinen."
Grüne und Konservative sind auch in Österreich alles andere als natürliche Partner. Die konservative ÖVP hatte zuvor noch mit der nationalistischen und rechtspopulistischen FPÖ recht harmonisch zusammen regiert. Nicht etwa inhaltliche Differenzen, sondern allein die sogenannte Ibiza-Affäre führte zum Zerwürfnis. Währenddessen beteuerten die Grünen, auf keinen Fall mit der ÖVP regieren zu wollen.
Das Besondere der aktuellen Regierung: Die beiden Parteien, die ideologisch sehr weit auseinanderliegen, haben erst gar nicht versucht, einen ressortübergreifenden Konsens auszuhandeln, sondern sich anders geeinigt: "Wir haben Themenbereiche definiert, in denen eine Partei jeweils die Führerschaft hat", sagte Kurz nach der Wahl im Januar 2020. Heißt: ÖVP-geführte Ministerien fahren eine türkise Linie, grünengeführte eine grüne.
Der Koalitionspartner muss die jeweiligen Gesetze und Entscheidungen dann automatisch mittragen. Das Beste aus beiden Welten heißt also in Österreich zum Beispiel: Klimaneutralität bis 2040 für die Grünen. Härtere Migrationspolitik und Ausweitung des Kopftuchverbots an Schulen für die ÖVP.
Für die Politikwissenschaftlerin Prof. Gabriele Abels entsteht dabei der Eindruck, dass hier eher nebeneinander her, anstatt miteinander regiert wird: "Klimapolitik etwa ist ein Bereich, der sich nur querschnittsübergreifend in allen Ministerien umsetzen lässt", findet die Expertin. Wenn zwei Parteien so unterschiedliche Programmatiken verfolgten, sei es schwierig, eine konsistente und kohärente Politik zu machen. "Insofern ist das ein sehr wackeliges Modell", urteilt Abels. Doch trotz dieser Bedenken und auch aller aktuellen Korruptionsvorwürfe gegen ÖVP-Politiker und dem dadurch erzwungenen Rücktritt von Kanzler Kurz hält dieses Modell weiter an.
Italien: Zwischen den Extremen
In Italien wurde ein Bündnis aus der Corona-Not geboren. Als der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank und eigentlich Nicht-Politiker Mario Draghi im Februar 2021 Ministerpräsident einer Sechs-Parteien-Koalition wurde, versprach er vor allem eins: die zu teils höchst zerstrittenen Lager in Italien zu einen. "Einheit ist keine Option, es ist eine Pflicht", sagte Draghi Mitte Februar im italienischen Parlament.
Das Ziel: Das von der Pandemie besonders gebeutelte Land aus der zweiten Corona-Welle führen und sich wichtige EU-Gelder aus dem Wiederaufbaufonds sichern. Zuvor waren in der laufenden Legislaturperiode bereits zwei Regierungen gescheitert und fast alle möglichen Koalitionen ausprobiert worden - darunter auch vorab undenkbare. Jetzt, unter Draghi, finden sich alle großen Fraktionen, die im Parlament vertreten sind, zusammen. Von den Sozialdemokraten über die populistische 5 Sterne Bewegung bis zur nationalistischen Lega.
Bemerkenswert ist, dass fünf dieser sechs Parteien zur Jahrtausendwende so noch gar nicht existierten. Das politische System Italiens ist stark zersplittert. Regelmäßig spalten sich Parteien ab oder werden neu gegründet. Eine Folge des Zusammenbruchs des politischen Systems in den 90er-Jahren.
Bei einem solch breiten, lagerübergreifenden Bündnis wie unter Draghi sind die Partner gezwungen, pragmatischer zu regieren, meint Prof. Gabriele Abels. Auch werde im Parlament jetzt mehr diskutiert. Dennoch: "Zugleich ist es weiterhin schwierig, da Konflikte, die es zwischen den Parteien gibt, immer am Köcheln bleiben werden", gibt Abels zu bedenken. Denn jede Partei versuche sich bei den nächsten Wahlen besser aufzustellen und von den Schwächen der Anderen zu profitieren. "Ich würde mich sehr wundern, wenn das Draghi-Modell die ganze Legislaturperiode überstehen wird", meint Abels. Dass Regierungen ganze Legislaturperioden überstehen, ist in Italien aber ohnehin die Ausnahme. Seit 1945 gab es dort 68 Regierungen.
Dänemark: Stark in der Minderheit
In Skandinavien haben Politikerinnen und Politiker oft kein Problem damit, ohne eigene Mehrheit im Parlament zu regieren, obwohl sie damit auf die Unterstützung der Opposition angewiesen sind. Allen voran Dänemark: Dort waren seit der Nachkriegszeit 28 von 32 Regierungen Minderheitsregierungen.
So auch die aktuelle unter der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Im Juni 2019 verständigte sie sich mit den Parteien des linksgerichteten Lagers auf ein Regierungsabkommen – eine "formalisierte Minderheitsregierung", wie es Experten nennen: Feste Kooperationen im Parlament mit koalitions-vertragsähnlichen Dokumenten. Aber eben keine Koalition. Die Ministerinnen und Minister werden ausschließlich von Frederiksens Sozialdemokraten gestellt. Gerade die Oppositionsparteien können so ihr Profil behalten, ohne dabei als Blockierer zu gelten.
Dr. Svenja Krauss von der Universität Wien hat sich intensiv mit Minderheitsregierungen beschäftigt und kann dem Modell einiges abgewinnen: "Vorteile sind ganz klar, dass das Miteinandersprechen im Parlament gefördert wird. Es gibt Kooperationen über Bündnisgrenzen hinweg und das ist ein Vorteil, wenn es um die Parlamentskultur geht", meint die Expertin. Das führe letztlich auch in der Bevölkerung zu einer größeren Demokratiezufriedenheit.
Neue Impulse für Deutschland?
Für deutsche Politikerinnen und Politiker könne der Blick zu den Nachbarn also durchaus eine Inspiration sein, findet Krauss. "Nachdem das System in Deutschland in den letzten Jahren relativ festgefahren ist, könnte man ihm so neue Impulse zuführen." Das könne letztlich auch dabei helfen, Brücken zwischen den einzelnen Lagern zu bauen und wieder mehr Meinungen Gehör zu verschaffen.
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