Weizen – der kommt in Tunesien zu einem großen Teil aus Russland oder der Ukraine: Der kleine nordafrikanische Staat bezieht bis zu 60 Prozent der Importe aus diesen beiden Ländern. Jedenfalls war das bisher so. Denn der Ukraine-Krieg macht sich deutlich in Tunesiens Supermärkten und Bäckereien bemerkbar – und das seit Anfang März.
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Schwarzmarkt für Öl und Mehl
Und es geht nicht nur um den Weizen: Auch Zucker, Mehl, Reis und Öl sind kaum vorhanden. Nudeln sind auf zwei Packungen pro Person rationiert. Morgens geliefert, sind die Regale in den Supermärkten bis zum Nachmittag schon wieder leer. Bäcker klagen über Mehlmangel. In der Hauptstadt Tunis sei die Situation noch erträglich, berichten Verbraucherinnen - in anderen Regionen stünden die Menschen stundenlang Schlange vor Bäckereien.
Im Einzelhandel bekomme man sein Brot und seine Nudeln häufig nur noch, wenn man einen Lebensmittelhändler oder Großhändler gut kenne, sagt Chiheb Nasr. Nasr kommt aus Douz, einer Kleinstadt am Rande der Wüste und hat einen Haushaltsbedarf-Großhandel. Mehl und Öl würden sonst meist schwarz verkauft, erklärt Nasr. Und fügt hinzu: "Neulich habe ich gesehen, dass sie im Supermarkt eine Palette Mehl abgeladen haben. Ich bin also hin. Die Schlange ging von der Kasse bis zur Tür, durch alle Gänge. Da standen vielleicht hundert Menschen, jeder mit zwei Paketen Mehl".
Zahlungsprobleme der Regierung
Grundnahrungsmittel sind in Tunesien stark staatlich subventioniert. Der Brotpreis in Tunesien ist staatlich festgesetzt - und bewegt sich keinen Cent. Getreide wird zentral vom Staat importiert - ausländische Marken werden als Luxusgüter eingestuft und sind durch die hohen Zölle für viele Verbraucher in Tunesien zu teuer.
Das Problem: Tunesiens Regierung kann nur noch schwer die Rechnung für die Importe bezahlen. Dieses Phänomen sei aber nicht neu, sagt Chiheb Nasr. Vor zehn Jahren sei es in seltenen Fällen vorgekommen, dass etwas nicht auf dem Markt war. Damals habe sich das aber im Laufe weniger Wochen wieder normalisiert. Seit den Wahlen 2019 sei das anders – und der Beginn der Corona-Pandemie habe die Lage dann noch einmal verschärft.
Ähnliches berichtet auch der spanische Abgeordnete Javier Nart bei einer Sitzung des Außenausschusses des Europaparlaments. Ende 2021 lagen zwei Containerschiffe mit einer Getreidelieferung wochenlang vor der tunesischen Küste. Die Europäische Union habe zwei Weizenschiffe finanzieren müssen, weil Tunesien kein Geld hatte, um das bestellte Getreide zu bezahlen, so Nart: "Wenn wir das Geld nicht in bar gegeben hätten, hätten wir die Fracht nicht ausladen können." Nart beschreibt Tunesien nach einer Delegationsreise im April als wirtschaftlich und politisch kurz vor dem Kollaps.
Claes: Tunesien hat über seine Verhältnisse gelebt
Dass Tunesiens Regierung wichtige Weizenlieferungen nicht mehr bezahlen könne, liege an steigenden Weltmarktpreisen, massiver Verschuldung und der Pandemie, sagt Thomas Claes von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis. Wichtige Einnahmen durch den Tourismus seien ausgeblieben, Tunesien habe in den Jahren zuvor erheblich Schulden aufgenommen und dabei sozusagen über seine Verhältnisse gelebt.
Das Land habe im vergangenen Jahr Schulden in Höhe von mehreren Milliarden Dollar begleichen müssen, so Claes. Das habe zu einem erheblichen Druck auf die tunesischen Währungsreserven geführt. Die Folge: Oft sei einfach nicht mehr genug da, um Rechnungen für Nahrungs- und Düngemittel schnell zu begleichen.
Einheimische Weizensorten als Ausweg?
Thomas Claes meint, Tunesien solle seinen Agrarsektor umbauen, mehr für den heimischen Bedarf produzieren - und das alles effizienter als bisher. 80 Prozent seines Wassers beispielsweise nutze das kleine nordafrikanische Land allein für die Landwirtschaft.
Potential für einen Umbau in der Landwirtschaft gibt es aus seiner Sicht: Zum Beispiel könnten statt europäischer Weizensorten einheimische Sorten angebaut werden. Der aktuell angebaute europäische Weizen sei sehr stark abhängig von Düngemitteln und verbrauche sehr viel Wasser. Der Ertrag sei zwar am Ende höher, aber, so Claes, Tunesien müsse eben den Dünger importieren. Der Preis für Düngemittel sei vom Energiepreis abhängig, also in den vergangenen Monaten erheblich gestiegen.
Politischer Wille fehlt
Um Tunesiens Landwirtschaft umzubauen, bräuchte es politischen Willen. Den gibt es zurzeit nicht, politisch ist das Land gelähmt. Präsident Kais Saied, der im Sommer 2021 die Regierung entmachtet hat und de facto allein regiert, beschäftigt sich zurzeit eher damit, den Machtapparat des Staates umzubauen. Für die meisten Tunesier ist das jedoch nicht das drängendste Problem: Sie kämpfen mit der fragilen Wirtschaft, der hohen Arbeitslosigkeit und den Problemen, Grundnahrungsmittel zu kaufen. Tunesien ist also wieder ein Pulverfass – wie schon vor elf Jahren, zu Beginn des Arabischen Frühlings.
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