Drei Viertel der Finninnen und Finnen sind inzwischen für einen Nato-Beitritt ihres Landes. Das ergab eine im Frühsommer 2022 durchgeführte landesweite Umfrage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Yle. Lagen im Januar – also vor dem russischen Überfall auf die Ukraine – die Zustimmungswerte bei nur 28 Prozent, so schnellte die Zahl im März bereits auf 62 Prozent.
Putins Angriffskrieg treibt Finnland in die NATO
Damit steht fest: Putins Angriffskrieg in der Ukraine treibt Finnland und auch Schweden mit einem Paukenschlag in die westliche Verteidigungsallianz. Und noch mehr Menschen, 83 Prozent, wären laut einer Umfrage des finnischen Verteidigungsministeriums bereit, ihre Heimat im Ernstfall mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.
Die größtenteils ungesicherte Grenze mit Russland ist rund 1.300 Kilometer lang. Statt Grenzzäunen prägen Natur, Fichten- und Birkenwälder sowie tausende Seen das Bild. Bis jetzt alles kein NATO-Gebiet. Finnland wollte sich während des Kalten Krieges und auch danach nicht mit dem großen Nachbarn im Osten anlegen.
Neutral ist Finnland aber schon lange nicht mehr
Neutral allerdings ist Finnland schon lange nicht mehr: seit 1995 EU-Mitglied, seit 20 Jahren Teil der Euro-Zone. Und auch mit der Nato sei das Land schon heute sehr viel enger verbunden als viele denken, betont Charly Salonius-Pasternak. Der Politologe vom Institut für Internationale Beziehungen in Helsinki beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit den finnisch-russischen Beziehungen.
"Finnland ist seit 1995 EU-Mitglied und kooperiert schon seit 1994 mit der Nato im Rahmen des Partnership-of-Peace-Programms – genauso wie Schweden. Seitdem haben wir eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Nato – wie weit das tatsächlich geht, das haben auch die meisten Politiker bei uns noch nicht realisiert. Tatsache ist aber, dass alle wesentlichen militärischen Systeme, Karten-Codierungen usw. auf die Nato abgestimmt sind. Echte Neutralität sieht sicherlich anders aus. Was bisher fehlt, ist ganz einfach die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis." Charly Salonius-Pasternak, Politologe
Nato-Beitritt in greifbarer Nähe
Beide Länder, Finnland und Schweden, haben ihre Beitrittsanträge am 18. Mai bei der Nato eingereicht. Dort seien sie "herzlich willkommen", betonte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Anschluss. Was jetzt folgen könnte, ist quasi ein Beitrittsverfahren im Eiltempo.
Inzwischen hat der Nato-Rat der bisherigen 30 Mitgliedsstaaten die Beitrittsprotokolle unterzeichnet, der letzte Schritt ist dann die Ratifizierung in den jeweiligen Mitgliedsländern. Der Deutsche Bundestag etwa hat dem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens Anfang Juli zugestimmt. Läuft alles glatt, könnten beide Länder schon Ende 2022 der Nato beitreten.
Schießtrainings nach einem Tag ausgebucht
Nato-Beitritt hin oder her – Finnland hat schon immer mit wachsamem Blick gen Osten geschaut. Und tut das seit dem 24. Februar, dem Beginn des Ukraine-Kriegs, noch deutlich aufmerksamer. Das spürt auch Juhana Liesimaa. Der 58-Jährige ist einer der Übungsleiter des Schießtrainings auf der Insel Santahamina. Seit Putins Überfall auf die Ukraine, erzählt der Waffenexperte, könne sich die Nationalen Vereinigung für Militärübungen, kurz MPK vor Anmeldungen zu ihren Wochenendübungen kaum retten:
"Im Prinzip kann sich jeder, der die finnische Staatsbürgerschaft hat und über 18 ist, zu einem solchen Training anmelden. Wir üben vor allem das Schießen mit Gewehren, und die Nachfrage war auch schon vor dem Ukraine-Krieg groß. Die Kurse sind eigentlich immer innerhalb einer Woche ausgebucht, seit Februar, März dauert das aber nur noch einen Tag. Die Nachfrage wächst also deutlich, und wir versuchen, auch darauf zu reagieren." Juhana Liesimaa, Übungsleiter
"Es gibt nichts, was wir hier in Finnland ernsthaft fürchten müssen"
Daher erhöhte die MPK die Anzahl der geplanten Trainingstage in ihren Kursen kurzerhand von 50.000 auf 100.000 für das laufende Jahr – und stärkt damit nochmals deutlich das, was Militärexperten als "comprehensive defence" bezeichnen: "umfassende Verteidigung" also, bei der geschulte Zivilistinnen und Zivilisten eine tragende Rolle spielen. Es verwundert kaum, dass der Militärausbilder Juhana Liesimaa persönlich schon immer für einen Nato-Beitritt Finnlands war.
Erstaunlich ist da schon eher die sachliche Unerschrockenheit, mit der er die aktuelle Sicherheitslage beschreibt: "Ich fühle mich absolut sicher, weil ich weiß, was unsere Landesverteidigung imstande ist zu leisten. Und wenn wir uns anschauen, was militärisch in der Ukraine los ist, dann zeigt das doch ziemlich klar: Es gibt nichts, was wir hier in Finnland ernsthaft fürchten müssen. Warum? Weil wir eine der besten, wenn nicht sogar die beste Verteidigung in ganz Europa haben."
Stärkste Artillerie in Westeuropa
Tatsächlich verfügt Finnland über die stärkste Artillerie in Westeuropa, also großkalibrige Geschütze und Raketenwaffen. Und während viele andere europäische Länder wie Deutschland, Frankreich oder auch Finnlands Nachbar Schweden nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Wehrpflicht abschafften, halten die Finnen bis heute daran fest.
Und: Allein in der Hauptstadt Helsinki würden im Ernstfall bis zu 900.000 Menschen in unterirdischen Bunkern Platz finden – rund ein Drittel mehr als die Stadt Einwohner hat. In Friedenszeiten werden die Bunker vor allem als Sportstätten genutzt: Schwimmhallen, Fitness-Studios, Hockey-Felder.
Finnisch-russisches Verhältnis auf dem Prüfstand
Unter der Erde können die Bewohnerinnen und Bewohner der Hauptstadt vor einer Gefahr Schutz suchen, die in den vergangenen Jahrzehnten latent immer da war – im Unterbewusstsein der Menschen jedenfalls. Über der Erde ist Russland sowieso irgendwie omnipräsent in Helsinki: Wer sich auf einem der vielen Kreuzfahrt- oder Fährschiffe der Hafenstadt nähert, erblickt als eines der prägenden Gebäude die Uspenki-Kathedrale.
Seit 1868 thront der unter Zar Alexander II. erbaute Sakralbau majestätisch auf einem Felsen unweit des Hafens und Marktplatzes von Helsinki. Die Uspenski-Kathedrale ist die größte orthodoxe Kirche im westlichen Teil Europas. Seit 1917, als das Großfürstentum Finnland seine Unabhängigkeit vom Zarenreich erklärte, ist die Kathedrale allerdings nicht mehr russisch-orthodox, sondern gehört nun schon seit über 100 Jahren zur finnisch-orthodoxen Kirche – während der Messen wird auf Finnisch gebetet und gesungen.
Seit Kriegsbeginn liegen alle Projekte mit Russland auf Eis
Unterhalb der Uspenski-Kathedrale hat auch die Finnisch-Russische Gesellschaft ihre Büros und Ausstellungsräume, in einem stylischen ehemaligen Speichergebäude aus rotem Ziegelstein. Brücken bauen, kulturelle Zusammenarbeit zwischen Museen und Theatern fördern, junge Menschen aus Finnland und Russland zusammenbringen – das hatte sich die Gesellschaft über viele Jahre auf die eigenen Fahnen geschrieben.
Jetzt sitzt die Direktorin Niina Sinkko etwas verloren zwischen Bücherregalen mit russischen Klassikern und bunt bemaltem Holzgeschirr: Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine liegen alle gemeinsamen Projekte mit russischen Partnern auf Eis, die Situation fühle sich an wie ein Lockdown der anderen Art, sagt Niina Sinkku mit Frust in der Stimme: "Als der Ukraine-Krieg ausbrach, konnte man in Finnland so etwas wie eine heftige allergische Reaktion beobachten. Natürlich gegen diesen Krieg und Putin, aber es wurden auch Erinnerungen wach: an den Winterkrieg mit Russland 1939, andere frühere Kriege, die wie eine Narbe in unserer Geschichte schmerzen."
Der ganze Hass komme jetzt wieder hoch, sagt Niina Sinkko: "Wenn man Kommentare liest in den sozialen Medien, dann schreiben da viele: 'Wir wussten ja immer, dass man den Russen nicht trauen kann', oder: 'Es war klar, dass das so kommen würde irgendwann'. Ich fürchte jedenfalls, es wird eine Mammutaufgabe sein, diese engen Verbindungen, die es immer gab zwischen unseren beiden Ländern, wiederaufzubauen."
Früher: Blockfreier Mittler und Mediator zwischen Ost und West
Nicht nur mit Kontakten auf persönlicher Ebene, auch mit einer speziellen Rolle Finnlands als blockfreier Mittler und Mediator zwischen Ost und West dürfte es infolge des Krieges und des anstehenden Nato-Beitrittes auf längere Sicht vorbei sein.
Richtungsweisend war dabei über viele Jahrzehnte eine berühmt gewordene Rede des ehemaligen Ministerpräsidenten Urho Kekkonen, in der er 1952 Finnlands Neutralität als Kern eines "Nordischen Modells" definierte. Mit Leben füllte der spätere Staatspräsident Kekkonen diese Politik in legendär gewordenen Saunagängen mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow.
Zahl der Nato-Gegner in Finnland schrumpft
Nato-kritische Stimmen sind in Finnland zwar kaum noch zu hören. Einige gehen dennoch weiterhin auf die Straße, um gegen den Nato-Beitritt Finnlands zu demonstrieren. So zum Beispiel die Aktivistin Ava Dahlvik mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern von der "Linken Jugend Finnlands". Ein Nato-Beitritt, das sei keine Sache, die man innerhalb weniger Wochen übers Knie brechen sollte, findet die 24-Jährige.
"Es gibt ja keine akute militärische Bedrohungslage in Finnland, und viele Experten sagen, dass sich das auch in den kommenden Jahren nicht ändern wird. Wenn das also bis dato funktioniert hat mit der militärischen Neutralität, dann sollte das auch in Zukunft möglich sein." Ava Dahlvik, Aktivistin
Pragmatismus statt Panik
Doch auch den verbliebenen Nato-Kritikern wie der linken Aktivistin Ava Dahlvik dürfte klar sein: Der finnische Zug Richtung Nato hat sich auf den Weg gemacht und wird kaum zu stoppen sein. Und das sei am Ende eine nachvollziehbare und auch recht logische Entwicklung, bilanziert der Politologe Charly Salonius-Pasternak nüchtern.
Nachbarn wie Russland und Finnland hätten immer enge Verbindungen, es gebe aber eben auch Streit an Ländergrenzen: "Und das bedeutet ganz konkret: Die Person, die heute etwas an einen russischen Touristen verkauft, kann morgen mit der Waffe in der Hand an einem Reservistenkurs teilnehmen. Für Finnen ist das kein Widerspruch. Ich glaube, dass wir dieses pragmatische Verhältnis zu Russland durchaus auch weiterhin haben können."
Norwegen als Vorbild
Norwegen mache das ganz gut vor, obwohl es in der NATO ist, so Charly Salonius-Pasternak. "Kann es eine Versöhnung mit Russland geben? Dafür bräuchte es eine neue politische Führung, einen neuen Politikansatz im Kreml. So wie unter Gorbatschow. Wenn wir uns also die späten 1970er Jahre anschauen und dann 15 Jahre weitergehen, dann ging es in den 1990er Jahren ja sogar um einen möglichen Nato-Beitritt Russlands – absurd aus heutiger Sicht. Aber es zeigt eben: Dinge können sich schnell ändern, wenn neue Führer die Szene betreten."
Ein neuer Gorbatschow im Kreml? Damit ist kurz- und mittelfristig wohl kaum zu rechnen. Und so wird auch Finnland sein Verhältnis zum großen Nachbarn im Osten neu justieren müssen – und dabei eher abgeklärt als ängstlich agieren, typisch finnisch eben.
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