Es ist knapp zwei Wochen her, seitdem die 24-jährige Shelby Lynn aus Nordirland auf ihrem Instagram-Account schwere Vorwürfe gegen das System um die Band Rammstein und Sänger Till Lindemann erhob: Nach einem Rammstein-Konzert in Vilnius sei sie mit einem Filmriss und mehreren blauen Flecken aufgewacht. Ihre Vermutung: K.O.-Tropfen und sexualisierte Gewalt im Kontext der Aftershow-Partys der Band. Genauer: Im Kontext privater Aftershow-Partys von Sänger Till Lindemann.
Shelbys Postings haben eine Welle ins Rollen gebracht: Viele Frauen meldeten sich mit ähnlichen Erfahrungen, berichteten von teils traumatischen und einschüchternden Erlebnissen, von Missbrauch und sexualisierter Gewalt backstage.
Doch kaum sind die Berichte in der Welt, melden sich Menschen, die glauben, diese kommentieren zu müssen. So geschieht es häufig in Fällen, bei denen Aussage gegen Aussage steht. Fans wollen ihr Idol - in diesem Fall Lindemann - verteidigen und werfen den mutmaßlichen Opfern vor, die Geschichten erfunden zu haben oder aber selbst schuld daran zu sein, dass es zu den Vorfällen kam. Was die Hintergründe für sogenanntes Victim-Blaming sind und wie ihm begegnet werden kann - eine Analyse.
Demo auf dem Weg zum Rammstein-Konzert
Am Mittwoch blickte alle Welt nach München, denn dort fand das erste von vier Konzerten der ausverkauften Rammstein-Welttournee statt. Eine Row Zero und eine Afterparty wird es nicht geben, das hatten im Vorfeld viele Stimmen gefordert, auch aus der Politik.
Auch Sophie Boner und Rosa Marghescu von der feministischen Initiative Slutwalk München waren heute auf dem Weg zum Olympiastadion zu finden. Aber nicht als Fans. Als Teil der Initiative nahmen sie an einer Demonstration teil, die sich um 18:20 Uhr am Lillian-Board-Weg Höhe Coubertinplatz traf. Die Twitter-Bloggerin "Jennystandhaft" (möchte bei BR24 nicht mit vollem Namen genannt werden) hat dort zu "Solidarität mit Opfern sexueller Gewalt" aufgerufen.
Kreide-Protestaktion gegen Täter-Opfer-Umkehr
Rosa Marghescu von der Slutwalk-Initiative kommentiert: "Die Stimmung ist sehr aufgeheizt. Wir haben ein bisschen Angst vor gewaltvollen Übergriffen. Deswegen haben wir gesagt, dass wir als Slutwalk keine Demo organisieren und uns auf die Demo setzen, die es schon gibt."
Die Slutwalk München-Initiative hat trotzdem etwas geplant: Eine Kreide-Protestaktion, bei der einschneidende (Warn)-Botschaften auf den Boden gemalt werden sollen. Die Initiative spricht sich immer wieder öffentlich gegen Slutshaming, Victim Blaming, Cat Calling und für sexuelle Selbstbestimmung aus.
Sophie Boner begründet ihre Aktion zu den Rammstein-Konzerten so: "Wir finden das wichtig, weil diese Geschichten leider immer ähnlich ablaufen: Es werden Vorwürfe erhoben - zum Beispiel aufgrund von sexualisierter Gewalt ausgehend von einer Person in einer Machtposition - und die erste Reaktion ist immer, die Schuld auf die Opfer zu schieben. Gerade bei berühmten Personen ist das besonders schlimm. Denn diese Idole zu stürzen, fällt den Menschen sehr, sehr schwer. Und deswegen reagieren sie dann mit Victim Blaming."
Im Video: Rammstein-Konzert im Schatten der Vorwürfe
Das steckt hinter Victim Blaming
Victim Blaming ist ein englischer Begriff für Täter-Opfer-Umkehr. Es beschreibt eine Strategie, bei der die Schuld und damit die Verantwortung für eine Tat von den Tätern oder Täterinnen auf die Betroffenen abgewälzt wird. Die gemeinnützige GmbH HateAid schreibt auf ihrer Website zum Begriff:
"Egal, ob es sich um verbale oder körperliche Übergriffe handelt – oft müssen sich die betroffenen Frauen für das, was ihnen angetan wurde, rechtfertigen. Sie werden dann beschuldigt, Übergriffe, Dickpics oder Vergewaltigungen selbst provoziert zu haben. Durch die Art und Weise, wie sie sich kleiden, wo sie sich aufhalten oder wie sie mit den Tätern und Täterinnen umgegangen sind."
Catcalling, (Cyber)-Stalking oder Vergewaltigung gelten zwar als schlimme Vergehen, gleichzeitig sehen viele in diesen Taten jedoch kalkulierbare Risiken, vor denen man sich schützen muss. Wer das nicht tut, oder solche Taten durch Kleidung oder Auftreten vermeintlich provoziert, sei "selbst schuld". Die wahren Opfer der Tat seien in dieser Logik die beschuldigten Tätern und Täterinnen, denn ihr Ruf werde geschädigt. Der Fokus wird von den Tätern auf die Betroffenen gelenkt.
Victim Blaming in der Causa Rammstein
Tatsächlich verläuft die Rammstein-Debatte ähnlich wie Debatten aus vergangenen Jahren, bei denen es um Prominente und sexualisierte Gewalt gegen Frauen ging. Zum Beispiel die um Sänger R. Kelly, Comedian Luke Mockridge, Rapper Samra, Schauspieler Johnny Depp oder Rockstar Marilyn Manson. Ziemlich schnell werden Seiten ergriffen, Idole oder Werte verteidigt - und dabei oft auch Halbwahrheiten verbreitet und weitergegeben. Danach folgen dann differenziertere Kommentare, journalistische Recherchen und die Meta-Ebene.
Besonders heiß wird oft im Netz diskutiert und gemutmaßt. Aktuell darüber, wie sehr Kunst und Künstler zu trennen sind. Was genau bei den Rammstein-Konzerten abgeht und wie die anderen Bandmitglieder wohl zu ihrem Frontmann stehen. Sophie Boner von Slutwalk München kommentiert: "Dann wird auch immer gerne Cancel Culture zitiert, so nach dem Thema: 'diese Person soll gecancelt werden, weil sie angeblich was verbrochen hat.' Aber in der Realität ist es oft andersherum: Die Täter werden nie gecancelt. Die Person, die laut geworden ist, wird oft ganz schnell angegriffen und mundtot gemacht. Oft auch gerichtlich, also durch Geld, je nach Rechtslage."
Ein zentraler Diskussionspunkt in all diesen Debatten: Der Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen von den Geschädigten - meistens sind das Frauen. Und genau hier hat die Strategie Victim Blaming oft ihren großen Auftritt.
Nutzer im Netz schieben Betroffenen Schuld in die Schuhe
In der aktuellen Rammstein-Debatte ist das Internet voll von Sätzen anonymer Nutzer wie: "Naja, womit haben die Frauen denn gerechnet, wenn sie als Groupie da leicht bekleidet hingehen?" oder "Warum sind die nicht einfach gegangen?" oder auch "Naja bei den Texten, die der schreibt, war das doch klar, dass der auf freaky Sex steht." Ebenfalls häufig dabei: "Das ist alles nur ausgedacht, da will jemand seine fünf Minuten Ruhm." So äußerte sich beispielsweise auch Schauspielerin Sophia Thomalla, Ex-Freundin von Till Lindemann, in der "Bild-Zeitung".
Dem entgegen wiederum stehen Menschen, die teils von eigenen Erfahrungen berichten, sich mit den Opfern solidarisieren und der "anderen Seite" mit Aufklärung entgegnen. Im Fall Rammstein zählen dazu die Aktivistinnen vom SlutWalk München, aber auch viele mehr.
Die Bloggerin Kayla Shyx etwa spricht in einem 40 minütigen Youtube-Video über die Thematik und sagt unter anderem: "Die Person, die jemanden sexuell missbraucht, die jemanden belästigt, aggressiv ist: Das ist immer noch die Person, auf die man den Finger zeigen sollte. Warum zeigst du den Finger auf die Person, die in die Situation reingekommen ist?" Und sie fährt weiter fort: "Ich weiß nicht, warum viele so einfach lieber einen 60-Jährigen verteidigen, der Gedichte über Vergewaltigungen schreibt, nur weil ihr seine Musik mögt. Anstatt den ganzen Mädchen zuzuhören! Da sollte man dann mal seine inneren Werte checken: Was ist einem wichtiger? Die Sicherheit der Mädchen oder sein Idol?"
Youtuber Rezo: So ein Verhalten "krank und kriminell"
Der Youtuber Rezo tut im Netz ebenfalls seine Meinung kund: "Es gibt Situationen im Leben, in denen man eine besondere Verantwortung hat, auf deutliche Einwilligung untereinander zu achten: Wenn Alkohol oder andere Substanzen im Spiel sind, wenn jemand keine Bezugsperson vor Ort hat, wenn die Situation unerwartet und überrumpelnd kommt. Oder wenn ein Machtgefälle da ist, also wenn eine Person etwas mit einer Person hat, die sie cool findet."
Würden solche Situationen bewusst und gezielt erzeugt, sei das ist "absolut verachtenswert". Etwa, indem man junge Frauen unter Druck setze, viel Alkohol zu trinken oder ihnen gar Drogen oder K.O.-Tropfen unterjuble. "Wenn man vorher so tut, als wäre das eine ganz normale Party und gar nichts von Sex erzählt und dann ganz plötzlich eine ganz andere Situation schafft, aus denen Leute nicht mehr rauskommen. Wenn man ein Machtgefälle bewusst ausnutzt. Wenn man Leute bewusst von ihren Partnern und Freunden trennt und isoliert." So ein Vorgehen sei "krank und kriminell", so Rezo weiter. "Und genau davon erzählen so, so viele Erfahrungsberichte."
Musikjournalistin: Kann "Backstage-Argument" nicht mehr hören
Auch die Musikjournalistin Miriam Davoudvandi schreibt dazu bei Instagram: "Ich kann dieses 'man weiß doch, was in Backstages passiert'-Argument nicht mehr hören." Für bestimmte Taten sei kein Backstage-Bereich nötig: "Wer übergriffig ist, ist es auch, wie bei mir in eigenen Fällen, zum Beispiel in professionellen Situationen, wo es dieser Logik nach 'weniger erwartbar' ist."
Sie sprach sich zudem dagegen aus, in der Vergangenheit des Sängers zu stöbern und nach Indizien für die mutmaßlichen Übergriffe zu suchen: "Auch das impliziert doch, es gäbe irgendwelche Warnsignale für Übergriffigkeit. Aber davon gibt es leider viel zu wenige. Politische Einstellungen, das Umfeld etc. sind leider zu selten ein Garant für Vertrauenswürdigkeit."
"Der größte Faktor ist Scham"
Viele werfen den mutmaßlichen Opfern von Rammstein, die seit Shelby an die Öffentlichkeit gehen, vor, dass sie sich erst jetzt melden. Julia Viechtl, Musikerin und Leiterin der Feierwerk-Fachstelle Pop in München erklärt im BR-Interview das Zögern im Rekurs auf ihre eigenen Erfahrungen: "Mir ist das selbst auch schon passiert. Und warum habe ich das nicht angezeigt und veröffentlicht? Der größte Faktor darin ist Scham. Die Scham davor, dass man selber verantwortlich ist, selbst irgendwie was dafür kann, dass einem das passiert ist. Die andere Sache ist die Retraumatisierung. Hat man wirklich Lust, mit irgendwelchen Leuten, die man nicht kennt, das Ganze zu besprechen? Ich habe es besprochen mit meinen Freunden, mit Leuten, die mir nahe stehen. Ich hatte kein Interesse daran, mit einem darüber zu reden, der mich nicht kennt."
Wer lügt? Studie zu Falschbeschuldigungen
Das große Problem bei Taten sexualisierter Gewalt: Häufig steht Aussage gegen Aussage - und das mit sehr wenig Beweisen. Die Frage, wer lügt, lässt sich oft nur schwer - und sehr häufig gar nicht - vor Gericht beantworten. Scrollt man durch die Kommentarspalten zur Causa Rammstein, entsteht der Eindruck, viele seien bereits überzeugt, wer lügt: Nämlich jene, die mutig über ihre teils traumatischen Erfahrungen berichten. Urteil: Falschbeschuldigung.
Im Jahr 2009 wurde eine europaweite Studie zum Thema "Strafverfolgung bei Vergewaltigung" veröffentlicht. In elf ausgewählten Ländern wurden darin je 100 Akten von Vergewaltigungsfällen untersucht, unter anderem in Deutschland. Das Ergebnis: Es ist kompliziert.
Der Anteil von Falschbeschuldigungen lag bei einem bis neun Prozent, je nach Land. Aber die Mehrheit der Fälle liegen in einem Graubereich, aus dem nicht ersichtlich wird, wer die Wahrheit sagt und wer lügt, bzw. wer eine Straftat begangen hat und wer unschuldig ist. In diesem Graubereich gibt es mit hoher Wahrscheinlichkeit potentielle Täterinnen und Täter, denen ein Übergriff nicht nachgewiesen werden konnte. Gleichfalls aber auch Fälle, in denen Personen zu Unrecht beschuldigt wurden. Eine belastende Ausgangslage. Und wenn dann noch Prominente beteiligt sind, also alles im Licht der Öffentlichkeit passiert, führt das oft zu einem noch größeren Ausmaß an Belastung.
Abschließend bleibt zu sagen: Wer tatsächlich schuldig oder unschuldig ist, lässt sich für Außenstehende meistens weder erkennen noch herausfinden. Die Unschuldsvermutung gilt für beide Seiten - auch für die der mutmaßlich Geschädigten. Statistisch gesehen ist man aber auf der sicheren Seite, wenn man glaubt, was mutmaßliche Opfer von sexualisierter Gewalt sagen.
- Zum Artikel: Rammstein-Vorwürfe: Wie man sich bei Konzerten schützen kann
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