Gaslit (Lionsgate+)
Martha Mitchell (Julia Roberts) ist Anfang der 1970er als "Mouth of the South" – das Plappermaul aus dem Süden bekannt. Sie ist die Ehefrau des frisch gekürten Generalstaatsanwalts John Mitchell (nicht zu erkennen: Sean Penn) unter US-Präsident Richard Nixon und hat den größten Spaß daran vor Kameras und Mikrofonen aus dem Nähkästchen zu plaudern, gern auch mit dem einen oder anderen Drink intus. Richtig ernst nimmt sie niemand. Und genau das wird ihr wenig später zum Verhängnis, als sie versucht die finsteren Machenschaften Nixons rund um den Watergate Skandal öffentlich zu machen.
Die Öffentlichkeit glaubt ihr nicht – von den Mächtigen wird ihr eine psychische Störung angedichtet, sie wird mundtot gemacht. Die brillante History-Serie "Gaslit" rehabilitiert sie viele Jahre später – und zeigt den Politzirkus in Nixons Washington als so überdreht und verachtenswert, dass ausgerechnet die laute, schrille Martha am Ende die einzige ist, die noch bei Verstand zu sein scheint.
Shining Girls (AppleTV+)
Kirby (Elizabeth Moss) notiert sich unentwegt etwas in ihr Heft. Wie sie heißt, schreibt sie auf, wo sie wohnt, welcher Schreibtisch im Büro ihrer ist. Schreibend fixiert sie ihre Realität. Denn die Welt um sie herum ist ständig in Bewegung. Mal lebt Kirby mit einem Hund und ihrer Mutter, dann mit einer Katze und ihrem Ehemann. Kirby und wir als Publikum sind gleichermaßen verwirrt. Bis sich herausstellt: Kirby ist traumatisiert. Sie war brutal überfallen worden, hat den Angriff nur knapp überlebt. Seitdem hat ihr Leben jede Stabilität verloren. Als eine Frau aufgefunden wird, die offenbar das gleiche durchgemacht hat wie Kirby, wird ihr klar, dass sie es mit einem Serientäter zu tun hat. Und beginnt zu ermitteln.
"Shining Girls" ist die Adaption des gleichnamigen Mysterythrillers von Lauren Beukes, der seine Protagonistin Kirby auf der Spur des Mörders auf eine zeit- und raumübergreifende Reise nach sich selbst schickt. Wie immer sehenswert ist natürlich Hauptdarstellerin Elizabeth Moss, die ihrer Figur von Folge zu Folge neue Facetten gibt.
A League Of Their Own (Prime Video)
Als Carson (Serienschöpferin Abbi Jacobson), Greta (D'arcy Carden) und Jo 1943 in Chicago auf das Baseballfeld treten trifft sie fast der Schlag. Um sie herum sind ausschließlich Frauen. Frauen, die den schweren Baseballschläger schwingen, die auf dem Sandboden zur nächsten Base rutschen, die Bälle mit Wucht bis in die Ränge schleudern. Die drei Baseball-Spielerinnen werden für die erste weibliche Profiliga ausgewählt – doch: Kaum eine von ihnen hat vorher in einem Team gespielt, vor allem nicht mit anderen Frauen. Und außer ihnen glaubt auch niemand daran, dass Frauen ernsthaft Baseball spielen können. Die "All American Girls Professional Baseball League" ist ein Spektakel für das kriegsgebeutelte Publikum. Und so müssen die Sportlerinnen nicht nur das Spiel beherrschen, sondern auch alle Regeln der "Weiblichkeit". Nicht rauchen, nicht trinken, keine Hosen – auch nicht auf dem Feld, hübsche Frisuren, Lippenstift – und: keine Männerbesuche.
"A League Of Their Own" ist das Serien-Update zum Kultfilm von 1992 und gibt endlich den Geschichten Raum, die im Film nur unterschwellig angedeutet wurden: die der afroamerikanischen Spielerinnen, die von der Liga ausgeschlossen wurden – und die der vielen queeren Frauen, die durch den Sport ungekannte Freiheit erleben. Ein Manifest für weibliche und queere Selbstermächtigung und die Feel-Good-Serie des Jahres!
The Bear (Disney+)
Carmen Berzatto (Jeremy Allan White) hat das Sandwich-Restaurant seines verstorbenen Bruders übernommen. Bodenständig, rustikal, in einer urbanen Gegend, die noch nicht durchgentrifiziert ist. Das hat Charme. Hinter den Kulissen hört es auf mit dem Charme: Die Küche ist dreckig, die Kolleginnen stehen sich im Weg, das Büro ist durcheinander, eine Rechnung ist wichtiger als die andere. Der Laden ist ein Chaos und Carmy will ihn auf Vordermann bringen. Er ist Sternkoch. Aber seine gutgemeinten Reformen stoßen auf Gegenwind bei den altgedienten Kolleginnen – seine Verbündete wird Sidney (toll: Ayo Edibiri).
In Großaufnahme wird geschnippelt, Gemüse und Fleisch angebraten – wir hören das Brutzeln und wie Creme auf einen Kuchen aufgetragen wird. Die Serie ist ästhetisch und sinnlich. Die Hitze in der Küche ist spürbar, die Hektik überträgt sich. "The Bear" ist ein gekonnter Wechsel von warmen zwischenmenschlichen Momenten und dem Druck, unter dem in der Küche gearbeitet wird. Großartig.
Irma Vep (Wow/HBO)
Hollywoodstar Mira Hardenberg (Alicia Vikander) möchte weg vom Blockbusterkino und stattdessen besondere Filme drehen. In der ersten Folge der Serie "Irma Vep" kommt sie in Paris an: Dorts spielt sie die Hauptrolle im Remake eines Kultfilms. Und hier beginnt die erste Meta-Ebene: Auch die Serie "Irma Vep" ist ein Remake eines Kultfilms von Olivier Assayas. 1996 kam der Film raus. Mira, die nicht genau weiß, wohin ihre Karriere steuert, verliert sich in der Figur, die sie eigentlich nur spielen soll.
"Irma Vep" ist eine Serie übers Serienmachen. Und über die Serienindustrie. Der Regisseur, der in der Serie die Serie dreht, besteht übrigens darauf, dass er keine Serie dreht, sondern einen Film – der acht Teile umfasst. Eine Serie könne es gar nicht sein, er ist nämlich Filmregisseur, sagt er. Wohin entwickelt sich das bewegte Bild? Und wer soll all die Serien, die ständig rauskommen, eigentlich schauen? Die Serie "Irma Vep" ist bei all den Meta-Ebenen und Theorien über die Filmindustrie, aber nicht verkopft, sondern sehr unterhaltsam.
Neuland (ZDF Mediathek)
Die Soldatin Karen Holt wird aus dem Auslandseinsatz in Mali zurück nach Hamburg geholt, weil ihre Schwester verschwunden ist und sie sich um deren Kinder kümmern soll. Karen trifft auf eine Welt, die ihr vollkommen fremd ist: eine elitäre, privilegierte, heile Vorstadtwelt, in der über den geplanten Integrationsanbau für Geflüchtete an der Grundschule diskutiert wird, aber niemand mitbekommt, was bei den Kindern auf dem Schulhof tatsächlich vor sich geht. Die Serie stammt von "KDD – Kriminaldauerdienst"-Schöpfer Orkun Ertener und klingt nicht nur wie eine deutsche Version der amerikanischen Hit-Serie "Big Little Lies" – sie bohrt auch genauso erbarmungslos in den Abgründen der augenscheinlich perfekten Eltern.
Besonders eindrucksvoll ist, wie in der Serie Gewaltstrukturen in Beziehungen freigelegt werden. Manche Szenen sind so unerwartet und direkt, dass man erschaudert. Ein Geheimtipp aus der ZDF-Mediathek.
Die übrigen Lieblingsserien des Jahres 2022, "Severance", "Yellowjackets", "Pachinko" und "Oh Hell" sind Thema im Halbjahresrückblick von "Skip Intro". Die Folge können Sie sich hier anhören.
Die Hörerinnen und Hörer von "Skip Intro" haben ihre Lieblingsserien des Jahre 2022 gewählt. Das sind sie:
Platz 1: "Severance" (AppleTV+)
Platz 2: "Game of Thrones: House of the Dragon" (Wow)
Platz 3: "The Lord of The Rings: The Rings of Power" (Prime Video) und "Heartstopper" (Netflix)
Platz 4: "The Bear" (Disney+)
Platz 5: "Pachinko" (AppleTV+) und "Andor" (Disney+)
Alle zwei Wochen stellen die Hosts Katja Engelhardt und Vanessa Schneider im BR Serien-Podcast "Skip Intro" neue Serien vor, sprechen mit Serienschaffenden und Expertinnen und teilen Tipps von ihrer Watchlist. Abonnieren Sie den Podcast hier.