Lange hat Johann Scheerer gezögert, alles aufzuschreiben. Dass der heute 35-jährige es schließlich tat, ist eher einem Zufall zu verdanken. Ein Verlag hatte sich an ihn gewandt mit der Bitte um ein ganz anderes Buch, eine andere Geschichte: über die Zusammenarbeit des Musikproduzenten Johann Scheerer mit Pete Doherty.
Johann Scheerer: „Explizit über die Produktion von Pete Dohertys jüngstem Album 'Hamburg Demonstrations', wie das so war, und als ich darüber nachgedacht habe, ob das etwas sein kann, was ich tue, bin ich sehr schnell zu dem Schluss gekommen, dass das erstens etwas ist, was ich jetzt nicht machen möchte, weil es eben zum Job eines Musikproduzenten dazugehört, nicht sofort anschließend alle Details auszuplaudern und zweitens wurde mir sehr schnell bewusst, dass wenn ich überhaupt etwas in Buchform schreiben möchte, dass ich erst mal diese Geschichte, die ich jetzt aufgeschrieben habe, aus dem Weg schreiben muss.“
Jetzt hat er sie „aus dem Weg geschrieben“, und wie! Johann Scheerer, der den Nachnamen seiner Mutter Ann-Kathrin Scheerer trägt, ist ein großartiges, beklemmendes Buch über die Reemstma-Entführung gelungen. 33 Tage der Angst, der Ungewissheit. 33 Tage, die seinen Blick auf die Welt verändert haben.
Johann Scheerer: „Ja, es war eine schlagartige Erschütterung aller bisherigen Gewissheiten. Das Problem ist: In so einer Extremsituation, wo nichts mehr so ist wie es vorher war, kann man auf überhaupt keine erlernten Muster zurückgreifen.“
Bis heute hört er die kreischende Stimme des Entführers aus dem Telefonapparat.
Johann Scheerer: „Ich habe diese hochgepitchte, verzerrte Anrufer-Stimme ganz klar im Ohr und werde sie sicherlich mein Leben lang nicht mehr los werden. Und da geht‘s auch meiner Mutter und allen anderen, die da so im Haus waren zu der Zeit, ganz sicher nicht anders. “
Ein Buch voller eindrücklicher Szenen
Irgendwann in diesen 33 Tagen, die sich sein Vater in der Gewalt der Entführer befindet, legt Johann Scheerer die VHS-Kassette mit „Ivanhoe“ ein: Den Film, in dem es maßgeblich darum geht, dass Richard Löwenherz von Leopold V. entführt und gefangen gehalten wird. Die Lösegeld-Summe, die Prinz John sich weigert zu zahlen, beträgt 150.000 Silbermark. Währenddessen werden im Hause Reemtsma in Hamburg-Blankenese 20 Millionen D-Mark gehortet, um den Vater, den Ehemann Jan-Philipp wieder frei zu bekommen. Der 13-jährige Junge vor dem Videorekorder hört seine Mutter und Freunde der Familie unten beratschlagen und erinnert sich, wie sein Vater sich damals, als sie „Ivanhoe“ oder „Prinz Eisenherz“ zusammen geschaut hatten, über die Synchronisation erregt hatte: Dieses „Hinfort!“, das die Ritter in der deutschen Fassung riefen, sei „weiß Gott keine Formulierung für einen Befehl“ in der Bedeutung von „Hau ab!“: Bei „Hinfort“ „handele es sich vielmehr um eine Zeitangabe.“ Solche Szenen sind es, die Johann Scheerers Buch so stark machen. Es ist ein Buch über seinen Vater, den vermögenden Literaturwissenschaftler, der seinem pubertierenden Sohn ein strenger Sprachwächter genauso war wie ein „stabiles Dach“. Einen Vater, der sich tagsüber abseits der Familie in seiner Bücherburg verschanzt, der so biblioman ist, dass er Johann im Kleinkindalter schon Arno Schmidt vorliest und selbst im Ski-Lift ein Reclam-Klassiker-Heftchen zückt.
Johann Scheerer: „Dieses Ständig-in-Büchern-Lesen, immer ein Buch mitnehmen, zu jeder Sekunde, die eventuell eine Sekunde der Langeweile werden könnte, ein Buch herausziehen und das dem Sohn, also in diesem Fall mir, dann auch so mitzuteilen – nimm immer bloß ein Buch mit, steck dir bloß ein Buch ein -, diese Abwesenheit die dadurch entsteht, die hat eigentlich große Parallelen zu der Abwesenheit die entsteht, wenn Eltern heute in ihre Handys gucken und ihre Kinder dabei stehen. Und von denen würde man jetzt ja auch nicht unbedingt sagen, sie seien asozial und würden sich nur noch mit digitalen Medien beschäftigen.“
Wer Johann Scheerer kontrolliert und jedes Wort wägend erzählen hört, fühlt sich sofort an seinen Vater Jan-Philipp Reemtsma erinnert. Beide verbindet die Gabe der leisen Ironie, des Humors, von der Scheerer schreibt, sein Vater habe ihm gesagt, sie sei ein Mittel, „eine schwierige Situation, gar ein Trauma zu verarbeiten“.
Johann Scheerer: „Es ist allerdings in diesem Fall nur begrenzt möglich, darüber innerfamiliäre Witze zu machen. Da gibt’s natürlich immer wieder Situationen, gerade wenn es um die Gestalten der Entführer geht, das sind ja einfach erbärmliche Kreaturen gewesen, die hatten natürlich ein großes Gag-Potential (lacht) innerfamiliär, und dass wir in der Lage waren, das zu benutzen, ist ein großes Glück. Nichtsdestotrotz ist das Erlebte natürlich jetzt nicht vorrangig mit Humor zu bewältigen.“
Scheerer ist nahezu alles noch präsent, obwohl die Entführung über zwanzig Jahre zurückliegt. Die Tagebuch-Notizen seiner Mutter waren ihm eine Hilfe, ebenso die Protokolle der Polizei, der etliche haarsträubende Pannen unterliefen, weshalb Ann-Kathrin Scheerer irgendwann selbst das Heft in die Hand nahm. Man liest dieses Buch aber nicht solcher Momente und des true-crime-Gehalts wegen so gebannt, sondern weil Johann Scheerer hier ein eindrückliches Selbstporträt zeichnet - und einfühlsam und schonungslos zugleich seinen allzu rationalen, nüchternen, fernen Vater porträtiert.
Plötzliche Nähe in einer Extremsituation
Dessen plötzlich so emotional aufgeladene Briefe aus dem Verlies der Entführer irritierten seinen Sohn immens. So kannte er seinen Vater bisher gar nicht. Paradoxerweise kommt er ihm also just im Moment der Entführung näher.
Johann Scheerer: „Natürlich stellt so eine Extremsituation eine Nähe her. Wenn man diese Nähe allerdings einmal genauer unter die Lupe nimmt, dann merkt man, dass es eben keine natürliche Nähe ist, sondern eine von außen aufgezwungene. Und wenn man sich mal anguckt, wie unsere Familie vor der Entführung so mit Zuneigung oder auch ganz stumpfen, alltäglichen Körperlichkeiten umgegangen ist, ja - wir haben uns sehr selten umarmt oder waren jetzt alles andere als gefühlsduselig - , da sieht man, dass im Grunde diese aufgezwungene Nähe jetzt überhaupt nicht etwas für mich ist, was mir bekannt vorkam, sondern das hat sich eher zusätzlich fremd angefühlt.“
Sein Vater, sagt Johann Scheerer, habe ihn nach der Lektüre angerufen und gesagt, er habe seine eigenen Erinnerungen an die Entführung, sein Buch „Im Keller“, „immer nur als einen von mehreren Teilen gesehen“. Deshalb sei es „gut und sogar notwendig“, dass seine, Johanns Sicht „jetzt auch veröffentlicht werde“. Das klingt wie ein sehr verhaltenes Lob. Aber man ahnt nach allem, was man aus diesem Buch erfahren hat: für Reemtsmas Verhältnisse war es fast ein überschwängliches.
Johann Scheerer: „Wir sind dann wohl die Angehörigen“.Piper. 234 Seiten. 20 Euro