Yavuz Ekinci ist Kurde. In seinem literarischen Werk hat der 44-jährige Schriftsteller vielfach das Schicksal, also die Verfolgung seines Volkes in der Heimat Türkei, beleuchtet. Längst ist Ekinci in Erdogans Reich aufgefallen, die Justiz verfolgt ihn seit Jahren. Derzeit sind verschiedene politische Prozesse gegen den Schriftsteller anhängig. Doch Ekinci bleibt unbeirrt. Im Interview streicht er den Unterschied zwischen Politik und Literatur heraus.
Literatur hilft zu verstehen
Autoren seien Menschen, die provozieren, die stören, die sich gegen etwas wenden und helfen, andere Perspektiven einzunehmen, sagt Ekinci. "Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen Politik und Schriftstellerei. Politik hat das Ziel, andere Menschen zu verurteilen, sie polarisiert. Während Schriftstellerei uns helfen sollte, Menschen zu verstehen, uns einzufühlen auch in jene, mit denen wir gar nicht einverstanden sind."
Ekincis neuer Roman trägt den Titel "Das ferne Dorf meiner Kindheit". Er ist autobiografisch grundiert und bereits 2008 begonnen, da war Ekinci Ende zwanzig. Im ersten Teil kommt der Roman beinahe harmlos daher. Aus der Sicht eines Kindes, Rüstem, werden Sitten und Gebräuche veranschaulicht, familiäre Bindungen und religiöse Traditionen. Bis dann der Krieg brutal in diese Welt bricht und Angst sich ausbreitet.
Hart und realistisch
"Das Land ist in eine Art Hölle verwandelt worden, in einen verfluchten Ort. Das heißt, seit Hundert Jahren gibt es Gewalt mit unglaublich vielen Toten und schrecklichem Leid. Und bei jeder Runde wird – wie beim Pokern – der Einsatz erhöht", sagt Ekinci im Interview mit dem BR. Im Original lautet der Titel "Die verlorene Erde des Paradieses" - und um Verlust geht es: Der ältere Bruder flüchtet zu Guerillakämpfern in die Berge. Der Vater bangt und trauert, steht unter der Herrschaft des patriarchalischen Großvaters. Der hütet ein blutiges Geheimnis. Dieser Roman ist hart und realistisch. Die Gewalt türkischer Soldaten wird geschildert, die Alpträume, das Dorfleben im Belagerungszustand. Die Spirale der Gewalt. Im zweiten Teil ist die Perspektive eine andere. Nun folgt der Leser dem inneren Monolog der Großmutter, die standhaft schweigt.
Ekinci sagt, er habe zwar keine Großmutter, die Genozid-Überlebende war. Aber er kenne aus seiner eigenen Kindheit viele Geschichten von jungen Frauen, die als Überlebende des Genozids "gerettet" wurden, indem man sie verheiratete. Die Großmutter Hatice hieß ursprünglich Almast. Sie ist Armenierin, Augenzeugin der Massaker, zwangsverheiratet und vom christlichen Glauben abgeschnitten – von Erinnerungen aufgefressen. Als sie stirbt, will ihr Sohn Mirza ihren Wunsch erfüllen und sie dort begraben, wo ihre Heimat war, in der Gemeinde der Armenier, auf dem Friedhof der Armenier – im Sperrgebiet also, einem verminten Gelände. Es ist ein abenteuerlicher Irrweg durch verbranntes Gebiet.
Vergangenheitsaufarbeitung in der Türkei
Der düstere, pechschwarze Roman erschien 2012 in der Türkei. Zu einer Zeit, als so etwas wie eine Debattenkultur in Gang gesetzt schien, sagt Ekinci. "Das war in der Türkei eine Zeit, als sehr viel über die Notwendigkeit einer Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung diskutiert wurde in der Öffentlichkeit. Das hing mit den Ambitionen der Regierung damals zusammen, eine EU-Vollmitgliedschaft zu erwirken. Und in dieser Atmosphäre erreichte mein Roman eine sehr breite Leserschaft."
Yavuz Ekinci hält sich derzeit in Deutschland auf, "bis auf Weiteres", wie es heißt. PEN-Berlin steht ihm zur Seite. Ekinci schreibt an seinem nächsten Roman. Ein weiterer Prozesstermin ist in der Türkei im Januar kommenden Jahres angesetzt, es drohen mehrere Jahre Gefängnis. "Terroristische Propaganda" wird dem Schriftsteller vorgeworfen, weil er sich in social-media-Beiträgen von 2013 und 2014 solidarisch mit den Kurden zeigte. Seinen Anspruch an die Schriftstellerei benennt Yavuz Ekinci klar und unmissverständlich: "Ich glaube, dass Schriftstellerei gefährlich sein sollte. Und dass Menschen, die keine Gefahr eingehen mit ihrem Schreiben, oft Menschen sind, die sich die Hände nicht schmutzig machen möchten. Sie meiden bestimmte Themen, weil sie ihre Wut verloren haben und bloß unenergetisch rumschreiben."
Yavuz Ekinci: Das ferne Dorf meiner Kindheit. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Kunstmann Verlag
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