Bildrechte: Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg

Marie: Gibt es ein Entkommen?

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Hinaus in die Kälte: "Die Soldaten" in Nürnberg

Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918 - 1970) ging es um den Verfall der Gesellschaft: Aufgerüttelt von der Atombombe, erschüttert von einer "Komödie" von J.M.R. Lenz schuf er eine monumentale Anklage gegen Gewalt. Nachtkritik von Peter Jungblut.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Es geht so ein scharfer Wind draußen, ich meine, wir werden Schnee bekommen" heißt es im Libretto der "Soldaten", und das war gestern Abend am Staatstheater Nürnberg geradezu prophetisch zu verstehen. Ja, draußen wurde es immer kälter und am Ende erwartete die Besucher ein Schneegestöber, aber schon vorher wurde das Publikum kurz der kalten Witterung ausgesetzt. Nach der Pause musste es außen herum vom Zuschauerraum auf die Bühne schlendern: Regisseur Peter Konwitschny zeigte den vierten und letzten Akt nämlich in umgekehrter Perspektive, der Blick der Zuschauer, die sämtlich auf der Bühne standen, fiel direkt auf die Mittelloge des ersten Rangs, genau dorthin, wo früher mal der Platz von Adolf Hitler war, was bei der Inszenierung einer Oper, in der es um Unmenschlichkeit, Brutalität und Vernichtung geht, kein Zufall sein kann.

Der Kapitalismus ist schuld

Kälte, das ist das Thema der "Soldaten", natürlich nicht der Schnee draußen, sondern das Eis drinnen: Die Gleichgültigkeit der Menschen, ihre Gier, ihre Rücksichtslosigkeit. Dem Sturm-und-Drang-Autor Jakob Michael Reinhold Lenz ging es 1771 noch darum, zu zeigen, wie Frauen von Soldaten systematisch missbraucht und zu Huren gemacht wurden. Komponist Bernd Alois Zimmermann fragte sich, wer oder was die ganze Menschheit missbraucht und zu Karikaturen ihrer selbst macht. Regisseur Peter Konwitschny gibt darauf in Nürnberg eine klare Antwort: Nicht die Soldaten sind schuld, sondern der Kapitalismus, der alle gleich macht, der alle uniformiert, dressiert, zu seelischen Krüppeln macht, Frauen wie Männer.

Betroffen über Kinderstatisten

Diese These ist nicht gerade neu, und es ist wahrlich schwer, mit dieser Botschaft heutzutage noch ein Premierenpublikum aufzurütteln und zu schockieren - nach dem höllischen Motto: Lasse alle Hoffnung fahren! Insofern ist es am anrührendsten, einem Regisseur der "Soldaten" beim zwangsläufigen Scheitern zuzusehen - trotz allen äußeren Aufwands, trotz monströsem Orchester, trotz der Idee, das Publikum auf die Bühne zu drängen. Immerhin, eine Zuschauerin zeigte sich betroffen, dass zwei Kinderstatisten dieser vermeintlichen "Tortur" ausgesetzt worden waren. Hätte Konwitschny ein Meerschweinchen auftreten lassen, wäre auch dem das Mitleid sicher gewesen. Befremdlich, wie Theater funktioniert.

Zwischen allen Pauken

"Erschlagen", "geplättet" wirkte das Publikum jedenfalls nicht, wie es der Komponist, seinerzeit tief erschüttert von der Vernichtungskraft der ersten Atombombe, ausdrücklich beabsichtigt hatte und wie es Peter Konwitschny mit größtem Aufwand herbei inszenieren, ja erzwingen wollte. Trotzdem war es eine beeindruckende Leistung des Staatstheaters Nürnberg, ein ernsthafter Diskussionsbeitrag zur inzwischen vielfältigen Werkgeschichte der "Soldaten" und eine Produktion, die weit über das Spielplan-Einerlei hinausweist. Zu den stärksten Bildern zählte eine Szene, in der Marie, die zur Hure gemacht wird, auf der ansonsten leeren Bühne zwischen drei Pauken-Batterien herum irrt, also aus allen Richtungen beschallt wird, im aussichtslosen Kampf mit der Gewalt.

Mit und ohne Schnee sehenswert

Ausstatter Helmut Brade beließ es ansonsten bei wenigen Requisiten, ein paar Tischen und Stühlen, angedeuteten Bäumen und Wänden, die aus dem Schnürboden herab schwebten. Statt Soldaten wimmelt es von Anzugsträgern, männlichen wie weiblichen: Szenen wie an der Wall Street oder der Londoner City. Lauter geldgetriebene Erfolgsmenschen im Triebstau. Dirigent Marcus Bosch setzte durchgehend auf Lautstärke, Härte, scharfe Kanten und massive Schlagzeugeffekte. Er meisterte die Riesen-Partitur unfallfrei, aber auch eine Spur zu gleichförmig. In all dem gewollten Radau wäre die eine oder andere Atempause durchaus effektvoll gewesen. Susanne Elmark als Marie, Uwe Stickert als ihr aasiger Verführer Desportes und Jochen Kupfer als ihr warmherziger Liebhaber Stolzius führten die Besetzungsliste mit rund 30 Solisten überzeugend an: Hier zählte nicht Schöngesang, sondern ehrlicher Ausdruck, authentisches Auftreten, ein durchgreifendes Rollenverständnis. Dank offensichtlich gründlicher Probenarbeit, auch mit dem Chor, sind diese "Soldaten" mit und ohne Schnee sehenswert.

Wieder am 12., 17. und 20. März, sowie weitere Termine.