Zwei Polizisten und eine Frau nehmen ein Kind in Gewahrsam
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Die Behörden nehmen die Kinder der Familie Little Bird in ihre Obhut. Janet Kidder spielt die strenge Sozialarbeiterin Jeannie.

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"Little Bird": Kanadische Behörden zerstören indigene Familien

20.000 indigene Kinder wurden zwischen 1950 und 1980 in Kanada ihren Familien entrissen, in Heime gesteckt und zwangsadoptiert. Die kanadische Mini-Serie "Little Bird" erzählt die exemplarische Geschichte der Familie Little Bird. Jetzt auf ARTE.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Kulturleben am .

Zu Beginn der Serie scheint alles in Ordnung zu sein: Die angehende Juristin Esther Rosenblum ist verliebt und feiert ihre Verlobung im Kreise von Freunden und Familie. Sie macht einen glücklichen Eindruck, aber bald wird deutlich, dass sie gedanklich ganz woanders ist, nämlich dort, wo sie herkommt. Bei ihrer richtigen Familie, der sie gewaltsam entrissen wurde, als sie fünf Jahre alt war. Ihre Flashbacks verstören sie. Den Zuschauer machen sie fassungslos: Gefühlskalt handelnde Sozialarbeiter entführen Esther und ihre zwei jüngeren Geschwister aus ihrer Heimat, dem Little-Pine-Reservat und geben sie zur Adoption frei. Ein traumatisches Erlebnis, das in indigenen Kindern in Kanada bis heute fortwirkt.

Auf der Suche nach ihrem wahren Leben

Die vielfach preisgekrönte Serie "Little Bird", die jetzt auf ARTE zu sehen ist, zeigt eine verzweifelte Identitätssuche. Esther, die eigentlich Behzig Little Bird heißt (Behzig bedeutet "Die Erste", sie ist vor ihrem Zwillingsbruder auf die Welt gekommen), möchte ihre Geschwister wieder finden, was sich als äußerst kompliziert erweist. Denn die Adoptionsakten sind in all diesen Fällen unter Verschluss, den Betroffenen darf von amtlicher Seite keine Auskunft über Herkunft, Wohnort und Geschichte ihrer indigenen Familienangehörigen gegeben werden.

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Esther Rosenblum (Darla Contois) und ihr Verlobter David (Rowen Khan) am Tag ihrer Verlobungsfeier

Doch Esther setzt sich durch. Sie findet ihre Geschwister und tastet sich zusammen mit ihnen immer wieder an die vergangenen 18 Jahre heran. Eine Zeit, deren entscheidende Momente als rasant montierte Erinnerungsfetzen in der Serie immer wieder aufblitzen, hochtauchen und wegschwimmen.

Drehbuchautorin: "Jeder von uns ist betroffen von kolonialer Gewalt"

Die vor und zurück springende Dramaturgie berührt, ebenso wie die Regie, die ihre Protagonisten auch mal frontal in die Kamera blicken lässt. Traurig, anklagend. Nicht zufällig, denn in "Little Bird" hat fast die ganze Besetzung einen indigenen Hintergrund. So gelingt ein besonders authentischer Blick, der den Zuschauer von Anfang an in seinen Bann zieht. Die Drehbuchautorin Jennifer Podemski hat einen jüdisch-indigenen Ursprung. "Jeder von uns ist betroffen von kolonialer Gewalt und jeder Schauspieler hatte eine persönliche Verbindung zu der Story", sagt Podemski im BR-Interview. "Es war sehr herausfordernd. Wir hatten einen Traumatherapeuten am Set. Letztendlich mussten wir alle aufeinander aufpassen. Es war sehr, sehr hart, aber wir wussten, dass das, was wir tun, so wichtig ist und dass es eine Geschichte ist, die erzählt werden muss."

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Die Familie Little Bird kommt für ein Familienfoto zusammen.

Späte Entschuldigung von Kanadas Premierminister Justin Trudeau

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996 wurden in Kanada insgesamt etwa 150.000 indigene Kinder aus ihren Familien und ihrer Kultur verschleppt und in sogenannten Residential Schools – speziellen Internaten – umerzogen. Während des sogenannten "Sixties Scoop" zwischen den 50er- und 80er-Jahren wurden zudem etwa 20.000 indigene Kinder in "weiße" Familien zwangsadoptiert. Sie durften ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Tradition und Kultur nicht mehr pflegen. Auch sexueller Missbrauch hat dort systematisch stattgefunden. Tausende indigene Kinder sind gestorben.

Seit den 90er-Jahren verschafft sich wirksamer politischer Aktivismus von indigenen Gruppen landesweit Gehör. Kanadas Premierminister Justin Trudeau hat sich gegenüber indigenen Menschen, die in sogenannte Residential Schools gebracht wurden, 2021 öffentlich entschuldigt.

First-Nations-Kulturen immer noch mit Hass konfrontiert

Zudem wurde eine Untersuchungskommission zur nationalen Aufarbeitung eingerichtet. Hinzu kamen Reparationszahlungen in Höhe von drei Milliarden Dollar. 10.000 Dollar pro Person pro Jahr. Museen, Geschäfte und Kirchen haben Gedenkstätten errichtet. Dennoch schockieren immer neue Nachrichten das Land: 2021 wurden hunderte Gräber indigener Kinder auf Schulgrundstücken entdeckt. Sie zeugen vom einstigen Versuch, First-Nations-Kulturen auszulöschen. Jennifer Podemski sieht sich und ihre Community immer noch mit Hass konfrontiert.

"Assimilation, Auslöschung, systemische Gewalt, systemischen Rassismus. All das erleben wir jeden Tag, überall wo wir arbeiten oder existieren", sagt Jennifer Podemski im BR. Selbst dort, wo sie schon weit gekommen und repräsentiert sind, sei es extrem schwierig und es fühle sich manchmal unmöglich an, die Barrieren zu überwinden, so die Drehbuchautorin. "Ich tu mein Bestes, die Wahrheit zu erzählen und die Welt zu informieren, auch, um meine Community aufzubauen. Es ist Zeit, die Wahrheit zu erzählen, damit wir heilen können."

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Patti Little Bird wird gespielt von Ellyn Jade

Indigenes Kino auf dem Vormarsch

Jennifer Podemski ist mit ihrer Botschaft nicht allein. Seit den 80er-Jahren wächst das indigene Kino in Kanada. 1984 beeindruckte der Dokumentarfilm "Richard Cardinal – Cry from a diary of a metis child", der aus dem Tagebuch eines 17-jährigen Jungen erzählt, der Selbstmord begeht, nachdem er seiner Familie entrissen wurde. "Smoke Signals", ein indigener Film aus den USA, gewann 1998 internationale Aufmerksamkeit. Hier erklärt Viktor seinem Freund Thomas, wie ein echter Indigener auftreten muss, um weißen Menschen Respekt einzuflößen.

2001 gewann der kanadische Film "Atanarjuat: The Fast Runner", der durchgängig die Inuit-Sprache Inuktitut benutzt, in Cannes die Goldene Kamera. Heute erscheinen zwölf bis zwanzig indigene Langfilm-Produktionen jährlich. Obwohl Jennifer Podemski bemängelt, dass indigene Geschichten immer noch zu wenig erzählt werden, hat sie mit ihrer Serie "Little Bird" weltweit viel positive Resonanz erfahren. Das stimmt sie zuversichtlich: "Dass ich jetzt gerade für Deutschland ein Interview gebe, wo mein Großvater im KZ Bergen-Belsen war – und ich spreche über eine Story, die ich geschaffen habe, über meine jüdisch-indigene Identität – das ist wie ein Testament und ein Wandel. Ich bin so froh, hier meine Geschichte zu teilen."

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