Junger Soldat mit Schutzkappe im Panzerturm
Bildrechte: Russisches Verteidigungsministerium/dpa-Bildfunk

Russischer Panzersoldat im Einsatz

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"Lügen nützt nichts": Putins Soldaten schimpfen über Propaganda

Russische Militärbeobachter zeigen sich zunehmend genervt von den offiziellen Durchhalteparolen. Neuerdings wird die Schönfärberei des Kremls offen kritisiert, die Unterdrückungsmaßnahmen mit Stalins blutigen Säuberungen verglichen: "Hallo 1937!"

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Ganz neue Töne bei den russischen "Z-Bloggern", den ultrapatriotischen Beobachtern des Kampfgeschehens. Normalerweise schwelgen sie in angeblichen Erfolgen und schmähen die ukrainischen Truppen nach Kräften, doch neuerdings mehrt sich die Kritik an den eigenen Propagandisten. Unter der Überschrift "Die bittere Wahrheit" heißt es bei einem der populären Netzkommentatoren verblüffend freimütig: "Den militärischen Telegramm-Kanälen entnehme ich zunehmend die Behauptung, dass die Streitkräfte der Ukraine sich weigerten, an der Saporoschje-Front voranzuschreiten. Ich weiß nicht, wer solche Informationen herausgibt, aber in Wirklichkeit sehe ich genau das Gegenteil." Tatsächlich seien die ukrainischen Soldaten enorm kampfentschlossen: "Nach langer Zeit an der Front wurde mir klar, dass man sich niemals von Gerüchten und angeblichen Nachrichten über die andere Seite beeindrucken lassen sollte."

"Hochstapler und Panikmacher"

Ein weiterer russischer Front-Blogger ("Russische Garde") schreibt: "Natürlich ist es notwendig, die Moral zu heben und nicht in Panik zu verfallen, aber wenn es statt Analysen ständig solche Jubelberichte für ein riesiges Publikum gibt, wem nützen sie dann? Denjenigen, die sie lesen und glauben und den Rest für Hochstapler und Panikmacher halten?" Wer sich aufgrund der grellen Propaganda freiwillig zur Front melde, werde sehr schnell ernüchtert und frustriert sein, denn dort habe nur der eine Überlebenschance, der "selbst denken" könne: "Lügen nützt nichts."

Die Kommandeure müssten sich wieder in Erinnerung rufen, dass sie ohne die Mannschaften "nichts" seien. Als Beleg dafür nennt der Blogger den berühmten Weltkriegs-Klassiker "Wolokolamsker Chaussee" (1943/44) von Alexander Bek, der als sowjetischer Erziehungsroman gilt und sich vor allem um das Thema Angstbewältigung dreht ("psychologische Kriegsführung"). Die Helden kämpfen bis zur "letzten Patrone", aber stets aufrichtig gegenüber ihren Untergebenen: "Darin sehe ich persönlich neben der Kampfbereitschaft auch eine Botschaft, Soldaten zu retten. Was ist, wenn der Soldat zum Einsatz bereit ist, aber nicht geschützt werden kann? Tun sie alles, um ihn zu retten? Oder schicken sie ihn ohne die Unterstützung der Artillerie in den sicheren Tod? Sie können auf unterschiedliche Weise kämpfen, je nachdem mit Verstand oder mit Dummheit. Im ersteren Fall sind die Verluste minimal, im zweiteren vervielfachen sie sich."

"Keine Wunder erwarten"

Einer der bekanntesten Z-Blogger, Alexander Chodakowski (über 600.000 Abonnenten), ergeht sich zunehmend in düsteren philosophischen Betrachtungen über die Folgen der hohlen russischen Propaganda: "Ich dachte: Leute, wenn es unmöglich wird, die Informationen zu vertuschen, wie werdet ihr die Situation darstellen?" Weitere Rückzüge an der Südfront seien unvermeidbar: "Stellen Sie sich die Infanterie vor, die mehrere Tage [von der feindlichen Artillerie] ohne eine 'Antwort' unsererseits bearbeitet wird – in welchen Zustand wird sie versetzt? Dann wird der Feind eine Offensive starten und ihm wird nicht ein frischer und energischer Soldat entgegentreten, sondern eine Person, die extreme physische und psychische Belastungen hinter sich hat. Das Ergebnis wird im Voraus gefälscht – schon in der Vorbereitungsphase wird der zukünftige Sieg festgezurrt. Wenn wir aber mehrere Tage lang kein angemessenes Maßnahmensystem gegen den Feind organisieren können und Granaten und Abwürfe von Hubschraubern unbeantwortet auf den Kopf unseres Soldaten fliegen, sollten Sie von ihm keine Wunder erwarten."

"Unangenehmes Gefühl"

Chodakowski warf den offiziellen Strategen vor, sich hinter allen möglichen allgemeinen "Faktoren und Trends" zu verschanzen, aber in Wirklichkeit den Wald nicht mehr vor Bäumen zu sehen: "Es kann vorkommen, dass Sie beim Gehen zwar den Wald sehen, aber nicht auf die Bäume achten und prompt mit dem Kopf gegen einen Baum knallen." Der Militärexperte lässt keinen Zweifel daran, dass die russische Artillerie der ukrainischen bei der Reichweite und dem Munitionsnachschub unterlegen sei: "Unsere Feuerintensität ist leider geringer, und deshalb fühlt sich der Feind wohler als wir."

Vom "Bataillon Wostok" heißt es fast wortgleich: "Viele Kämpfer wissen natürlich, dass es ein unangenehmes Gefühl ist, wenn sie einem die Befestigung zertrümmern und man nicht einmal etwas hat, womit man antworten kann." Es sei "schade", dass die eigene Artillerie "nicht mehr über die Ressourcen" verfüge, um die Männer in den Schützengräben zu unterstützen.

"Gib mir die Kraft, meinen Verstand zu bewahren"

Oberst Pjotr Schuwalow schreibt ähnlich ernüchtert: "Unsere Mobilisierten der ersten Welle träumen in den meisten Fällen nicht von militärischen Siegen, sondern von einer schnellen Demobilisierung oder zumindest einem Urlaub. Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass in unserer Armee im Allgemeinen alle Soldaten kampfbereit sind, aber in meiner Einheit ist die Situation etwas anders. Und in einer Reihe anderer Einheiten ähnelt die Situation eher der in meiner Einheit beschriebenen. Wahrscheinlich ist das einfach nur Zufall." Dagegen helfe weder die TV-Propaganda, noch die Netzzensur, sondern nur ein klar formuliertes Kriegsziel.

Auch im Zweiten Weltkrieg habe es "Rückzüge und empfindliche Niederlagen" gegeben, doch die Propaganda sei hinsichtlich der Zielvorstellungen nicht vergleichbar gewesen. Zwar werde in der Armee "nichts vertuscht", behauptet Schuwalow, aber der Korpsgeist mit geschönten Berichten sorge dafür, dass sich die Führungsebene aus "Gitarrenspielern und Halbgebildeten" in einer "falschen Realität" häuslich eingerichtet habe: "Herr, gib mir die Kraft, in diesem Chaos meinen Verstand zu bewahren, gib mir die Kraft, angesichts der Idiotie der Situation nicht durchzudrehen, gib mir die Möglichkeit, die mangelhaften Befehle und die blutigen Lügen derer zu überleben, die behaupten, Russen zu sein, es aber nie geworden sind. Gib mir die Kraft, den Behörden nicht in die Fresse zu hauen und gib mir die Möglichkeit, die Umstände in die Länge zu ziehen und meine Kämpfer vor dem Heldenstatus zu bewahren."

"Sie schaden Russland offen"

Es helfe wenig, Zerstörungen auf russischem Gebiet abzustreiten, so Blogger Roman Saponkow (80.000 Fans). Mit hoher Wahrscheinlichkeit werde der Westen in Windeseile beweiskräftige Satellitenfotos verbreiten: "Das untergräbt die Glaubwürdigkeit russischer Quellen. Und so werden sie uns ins Leere laufen lassen, bis wir erkennen, dass die Satellitentechnik für den Feind arbeitet, vor der es unmöglich ist, Angriffe auf unsere Infrastruktur zu verbergen."

Ein anderer Blogger fühlte sich "wie im Kindergarten", was das Verhalten von Putins Propgandisten betrifft: "Prost, sie beweisen, dass alles in Ordnung sei und bums, legt der Feind Beweisfotos vom Gegenteil vor." Das bewirke einen "Rückgang des Vertrauens des russischen Volkes in offizielle Informationsquellen und damit in die Behörden", so der Kritiker: "Schuld daran ist die geringe Kompetenz derjenigen, die sich ernsthaft mit dieser Arbeit befassen sollten, die dem Oberbefehlshaber nicht zuhörten, als er vor Lügen warnte, und damit Russland offen schaden."

"Jeder wird entfernt"

Die Drohnen-Einschläge in Russland würden immer zahlreicher, so die "Zwei Majore" (430.000 Fans), das bleibe trotz aller offiziellen Abwiegelung eine "Tatsache": "Es lohnt sich auf keinen Fall, darüber zu zetern, während man durch die sieben Kreise der Telegramm-Hölle rennt. Aber das Schlimmste in dieser Situation wäre, die Lage falsch einzuschätzen, sich mit 'schönen Berichten' selbst zu beruhigen und von den angeblich 'ausreichenden' getroffenen Maßnahmen zu reden. Wenn die Drohnen der Streitkräfte der Ukraine bis in die Hauptstadt fliegen und die Region Belgorod monatelang beschossen wird, sind sie nicht 'ausreichend'."

Besonders erbost sind zahlreiche Blogger darüber, dass die russischen Behörden die Unruhen in der Brigade 205 vertuschen wollen, wo Kommandeuren wüste Quälereien vorgeworfen werden, bis hin zur Erpressung von Untergebenen. Außerdem seien Soldaten ohne jede Artillerie-Unterstützung in "Todeskommandos" auf Inseln im Dnjepr geschickt worden. Als Gerüchte umliefen, die Blogger, die das öffentlich machten, würden festgenommen, schrieb der bekannte Kommentator Romanow: "Hallo, 1937!" Eine Anspielung auf das Jahr, in dem Stalins blutige "Säuberungsaktionen" ihren Höhepunkt erreichten: "Das heißt, jeder, der entfernt werden kann, wird entfernt, einige werden eingesperrt, einige werden für immer eliminiert, an der Front entstehen Chaos und Gesetzlosigkeit, und es wird versucht, diejenigen, die die Wahrheit sagen, mit allen verfügbaren Mitteln zu beseitigen, anstatt die Lage zu verbessern und diejenigen abzuberufen, die sich der Wahrheit verweigern."

"Schreien sollte er nicht"

"Ehrliche" Offiziere würden das nicht zulassen, so Romanow, aber wenn es doch anders komme, sei für jedermann sichtbar, dass es "auf Schritt und Tritt nur Lügen" gebe und dass diejenigen, die "kriminelle Befehle" erteilten nichts anderes seien als "Verräter und Komplizen des Feindes". Mit Abhilfe rechnet der Blogger übrigens nicht: Er habe nur "rhetorische Fragen" gestellt, gibt er zu, und mittlerweile würden die rebellischen Einheiten aufgelöst und deren renitente Soldaten auf andere Regionen verteilt.

Auch die TV-Propaganda findet inzwischen bei russischen Ultrapatrioten wenig Gnade. So sorgt Wladimir Solowjow Tag für Tag für ermüdende Schrei-Monologe: "Das ist zu viel Intoleranz und Wut. Ein Journalist muss mit Menschen reden, sie kritisieren, starke Emotionen wecken und persönliches Engagement zeigen – das alles wäre angemessen. Aber schreien sollte er nicht. Er aber hat nur rumgebrüllt." Solowjow habe als Journalist "überhaupt keine Quellen, nur Handlungsanweisungen", scherzte der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Alexej Wenediktow.

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