Es geht in diesem Roman, der offenkundig autobiographische Züge trägt, um einen 1960 in Prag geborenen Schriftsteller, der der Sohn des Übersetzers Semjon Biller und der Autorin Rada Biller ist und dessen ältere Schwester Jelena vor kurzem ein Buch über ihre Familie veröffentlicht hat. Über „diesen ganzen Familienirrsinn“, wie es in „Sechs Koffer“ heißt, hat nun auch ihr Bruder Maxim ein Buch geschrieben, jener begnadete Polemiker, der über sich vor Jahren schon das Selbstporträt „Der gebrauchte Jude“ verfasste.
Maxim Biller ("Der gebrauchte Jude"): "Dass ich Jude und nichts als Jude war, hatte ich zu Hause gelernt, von einem russischen Vater, der als Jugendlicher an Lenin wie an einen Gott geglaubt hatte. Dann warfen ihn Stalins Leute 1949 aus der Partei - weil er Jude war -, und das Judesein wurde zu seiner Religion, was es vorher nie war, aber ohne Gebetsschal und Synagoge. Einiges davon ist auf mich übergegangen: Ich bin Jude und nichts als Jude, weil ich wie alle Juden nur an mich selbst glaube, und ich habe nicht einmal Gott, auf den ich wütend sein könnte. Ich bin Jude, weil fast alle in meiner Familie vor mir Juden waren. Ich bin Jude, weil ich kein Russe, Tscheche oder Deutscher sein will. Ich bin Jude, weil ich schon als Zwanzigjähriger jüdische Witze erzählte, weil ich mehr Angst vor einer Erkältung habe als vor Krieg und Sex für wichtiger halte als Literatur."
"Dieser ganze Familienirrsinn"
Maxim Biller erzählt über seine Familie, über deren Emigration 1970 aus der Tschechoslowakei, v.a. aber über deren nie gelüftete Geheimnisse, die schon den jungen Erzähler, der auf alle wie ein „kleiner Trotzki“ wirkt, umtreiben. V.a. die Frage, wer aus der Familie seinen Großvater Schmil Biller, einen Schwarzhändler, verraten haben könnte, so dass der 1960 – im Jahr der Geburt seines Enkels – in Moskau hingerichtet wurde. Diesen Tod aufzuklären, gelingt weder dem neugierigen Teenager noch dem heute 57-jährig in Berlin lebenden Kolumnisten und Autor, so sehr er auch seine Eltern löchert und Nachforschungen betreibt. Vielleicht, so überlegt man beim Lesen, hat es diese Hinrichtung des „Taten“ auch gar nicht gegeben. So wenig wie den preisgekrönten Film einer Tante des Erzählers, Natalia Gelernter, oder den angeblichen Fernseh-Talkshow-Auftritt Billers im Jahr 1986, von dem hier ausführlicher berichtet wird.
"Meine unverschämte, freche, osteuropäische Art"
Maxim Biller macht in „Sechs Koffer“ das, was in der Literatur selbstverständlich und legitim ist. Er erfindet sich und das Leben seiner Angehörigen neu und vermischt dabei Realität und Fiktion. „Sechs Koffer“ ist dabei ein Dokument über eine Familie im Zeitalter der Extreme, dem 20. Jahrhundert: erst von den Nationalsozialisten verfolgt, dann von den Tschekisten. Schließlich in alle Weltgegenden verstreut: Montréal, London, Zürich, Hamburg, Rio. Biller macht daraus keine Leidensgeschichte, sondern erzählt, wie sich seine Familie der vielen Bedrohungen und antisemitischen Attacken zu erwehren wusste: mit Verve, mit Witz, und auch mit einer gewissen Härte und Schonungslosigkeit den eigenen Angehörigen gegenüber. Auf gerade einmal 198 Seiten liest sich das, dargeboten in seiner „unverschämten, frechen, osteuropäischen Art“, so lala.
Titel im "Literarischen Quartett"
Interessant wird sein, wie „Das literarische Quartett“ übermorgen Abend über dieses Buch urteilt. Maxim Biller war mal als gern austeilender Kritiker ein Teil desselben, und schon sein erster Roman „Die Tochter“ wurde im Jahr 2000 vom Ur-Quartett um Marcel Reich-Ranicki besprochen. Marcel Reich-Ranicki sagte damals, so erinnert sich Maxim Biller, er sei „intelligent, habe aber ein schlechtes Buch geschrieben“. Deutliche Worte. Mal schauen, was die Nachfolger über das neueste Buch Billers denken. „Sechs Koffer“ ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch für 19 Euro erschienen.