Mit bunten Kostümen unterwegs
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Gemeinsam ins Zeitalter des Wassermanns

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Nackt kämpft es sich cooler: "Hair" in München umjubelt

Der Flower-Power-Klassiker war nie aktueller als derzeit: Jeder küsst jeden und sieht Gendersternchen, auch mit Hilfe von Cannabis und andere Drogen. Hippie-Weisheiten, Hindu-Pop und Antikriegsbotschaften ergeben einen fulminanten Protest-Mix.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Sie nehmen sich die Freiheit, und wie! Die Freiheit, gegen die sogenannten guten Sitten zu verstoßen, die Freiheit, gegen Putins Angriffskrieg Blumen zu streuen, die Freiheit, für die Liebe in all ihren Erscheinungsformen aufzustehen, die Freiheit, gegen den skandalösen Zustand der Welt anzuschreien und die Freiheit, sich zu streiten, zu beschimpfen und zu versöhnen. Eigentlich erschreckend, wie aktuell diese gut fünfzig Jahre alte Flower-Power-Show - die Uraufführung war im April 1968 - über lange Haare, harte Drogen, lustvollen Sex und ausgelassene Rebellion heute noch ist, jedenfalls dann, wenn sie so aufrüttelnd und mitreißend inszeniert ist wie von Musical-Profi Andreas Gergen.

Putin hat zwei Auftritte

Er macht in "Hair" nicht nur seinen Hauptdarsteller nackt, sondern auch die Kernbotschaft dieses unverwüstlichen Hippie-Liederabends, der ja eigentlich gar keine Handlung hat. Es ist ein Happening gegen die Engstirnigkeit und Beschränkheit der Mächtigen, natürlich im Original auch gegen den Vietnamkrieg, der eigentlich niemals endete, verstanden als Krieg einer Großmacht gegen einen vermeintlich Unterlegenen, als Echo des Imperialismus. Deshalb hat Putin als "Politiker" auch zwei Auftritte, mit seiner berüchtigten Rede vom Morgen des 24. Februars am Beginn seines Feldzugs gegen die Ukraine. Er drohte der Welt und versuchte, ihr mit wüsten Andeutungen und einem sehr langen Tisch Angst zu machen. Es dauerte bekanntlich, bis sich die Starre des Westens löste.

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Blumenkinder in Rot

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Aufbruch zu neuen Ufern: Tänzer und Denis Riffel (ganz oben) als Berger

Womöglich scheitert auch Putin eines Tages schmählich mit seinem Krieg, der mit Raketen jedenfalls nicht zu gewinnen ist, wie sich nach fast eineinhalb Jahren voller blutiger Schlachten immer mehr herausstellt. Riesengroß ist LOVE auf der Bühne des Deutschen Theaters München zu lesen, jeder einzelne Buchstabe funkelnd im Showlicht. Ja, gegen die Welt, wie sie ist, hilft nur die Liebe, aber bitte keine liebliche, intime, private, sondern eine laute, nervende, aggressive und überzeugende.

Intensiver auf kleinerem Raum

Die Jungen rechnen ab mit ihren Altvorderen, die Millennials-Partytruppe macht Schluss mit der Karrieremühsal ihrer Elterngeneration und will lieber "high" sein statt auf Anwalt oder Zahnarzt zu studieren - allerdings möglichst schnell reich werden. Wer will, kann dabei an die heute viel beschworene "Work-Life-Balance" denken. Vor allem jedoch will die Jugend nicht auf dem Schlachtfeld sterben - die Hunderttausenden von Russen, die vor der Mobilisierung ins Ausland flüchteten, hätten diesen fulminanten Abend ebenso mit stehenden Ovationen gefeiert wie die Zuschauer bei der Wiederaufnahme in München. Und die Frontbilder sehr junger Soldaten, die in diesen Monaten wieder in den sozialen Netzen verbreitet werden, erinnern natürlich an historische Aufnahmen von Kämpfern im Vietnam-Krieg.

Tatsächlich war es ein Happening, mit dem vor der Premiere im Salzburger Landestheater in der Felsenreitschule im vergangenen Herbst kaum zu rechnen gewesen war, ein Fanal gegen Putins rückständige und gefährliche Weltanschauung und ein Blumenregen für die westlichen Werte der Toleranz, der Weltoffenheit, der Menschenrechte und des Friedens. Wie sich bei der Wiederaufnahme der Produktion auf der deutlich kleineren Bühne des Deutschen Theaters in München herausstellte, funktionierte das Konzept auch mit beschränkteren äußeren Mitteln. Womöglich gewann der Abend sogar an Intensität, weil die Mitwirkenden sich nicht in einem Riesenraum verlieren und weniger Abstand überbrücken müssen. Hier und da freilich kommen sie sich bei dem rasanten Tempo der Inszenierung in die Quere, vor allem, wenn es gilt, Requisiten schnell von der Bühne zu bringen.

Hippie-Kerle lassen "binären" Alltag hinter sich

"Hair" verträgt Pathos, denn das Musical ist selbst messianisch, nicht nur wegen seiner "Hare Krishna"-Chöre und den mit Hilfe von LSD beschleunigten Space-Trips ins Weltall, sondern auch, weil es sich nicht darum schert, Sachzwänge gelten zu lassen. Hört auf, euch dauernd zu entschuldigen, lasst einfach die Hosen runter und kämpft für eure Ideale, so die Message. Dass die keineswegs veraltet ist, bewiesen befremdete Reaktionen im Publikum, als sich die modernen Hippie-Kerle immer wieder leidenschaftlich die Zunge in den Mund schoben und damit eigentlich nur deutlich machen wollten, dass sie den "binären" Liebesalltag weit hinter gelassen haben. Auch die sexuelle Orientierung ist heutzutage "im Flow", was naturgemäß manch einen überfordert.

Die Ausstatterinnen Stefanie Seitz und Aleksandra Kica schwelgten natürlich in der Regenbogen-Optik der Hippie-Ära, aber keineswegs museal in betulicher "Pril"-Blumen-Nostalgie. So wie hier zu sehen, könnten rebellische Zeitgenossen auch heute noch rumlaufen. Tattoos zum Beispiel waren bei den Original-68ern bei weitem nicht so verbreitet.

Let the sunshine in!

Choreograph Stephen Martin Allan vermied erfreulicherweise die Musical-Standard-Rituale und befeuerte den Protestcharakter im Demo-Style. Vor allem jedoch überzeugten Hauptdarsteller Daniel Eckert und Denis Riffel als Yin und Yang-Duo Claude und Berger, der eine anpassungsbereit, der andere widerständig und gern splitternackt. Einer muss verlieren, das ist klar, aber anders, als es in der Filmversion von Miloš Forman aus dem Jahr 1979 sehen war. So ganz ignoriert Gergen die Kino-Vorlage natürlich nicht, ein paar Bildzitate wie die bizarre Nackt-Musterung vor vier Offizieren sind dabei.

Viele weitere Mitwirkende wären zu loben, darunter Julia-Elena Heinrich als Sheila und Judith Lefeber als Dionne. Insofern bleibt gültig, was schon bei der Salzburger Premiere deutlich wurde: Dieser Abend beseelt und beschwingt, er macht Mut und gute Laune, ist von erotischer Würze und signalisiert: Aufgeben ist keine Lebenseinstellung. Let the sunshine in!

Bis 30. Juli am Deutschen Theater in München