Reenactments sind zurzeit in Mode. In der Kunstwelt, in Theatern und in Museen werden historische Performances aufgeführt oder Aktionskunst von früher nochmal gezeigt. Dabei handelt es sich bei Reenactments ursprünglich um das Nachstellen historischer Schlachten. Dabei ist es unwichtig, dass die Menschen in nachgemachten, historischen Uniformen "nur" mit Platzpatronen schießen. Wichtig ist, den Lauf der Geschichte zu ergründen, zu verstehen, warum wer gesiegt hat, wer oder was auf der Strecke blieb. Wenn nun die immer leicht unnahbar wirkende Indie-Ikone Cat Power Bob Dylans Royal-Albert-Hall-Konzert von 1966 nachstellt, dann ist das natürlich auch ein Reenactment, also die Vergegenwärtigung eines Kulturkampfs.
Befreiung für den Rock'n'Roll
Aus Sicht von Cat Power hat Bob Dylan mit diesem Konzert die Musikgeschichte verändert. Weil er die Protestsongs beseite gelegt hat und sein Themenspektrum erweiterte. Um damit viele Menschen zu inspirieren und für Freiheit im Rock'n'Roll zu sorgen. Da hätten wir also auf der einen Seite den Liedermacher Bob Dylan, eine männliche Greta Thunberg, wenn man so will, der bisher auf diversen Demos der Bürgerrechtsbewegung aufgetreten ist, mit epischen Songs vor dem Atomkrieg warnte und sich ob des himmelschreienden Rassismus in den USA empört hat. Auf der anderen Seite stehen die Anhänger der damaligen, politischen Linken: Studenten, notorische Weltverbesserer und Idealisten mit Kategorien wie Klassenkampf und kritischer Theorie im Kopf. Es ist erhellend, sich die Songs, die Dylan damals gespielt hat, nochmal zu vergegenwärtigen, wie das Cat Power in diesem Live-Set tut.
Wie Cat Power Bob Dylan in die Gegenwart holt
Auf dem brillant aufgenommenen Live-Album aus der Royal Albert Hall vom Herbst 2022 kann man den Ablauf der Ereignisse von 1966 bestens nachvollziehen. Dylan, damals 25 Jahre alt, hat kein einziges politisches Lied gespielt, sondern ausschließlich Songs über Liebesbeziehungen gesungen, allerdings in einer neuen, wortgewaltigen Sprache. Cat Power fungiert, wie schon auf früheren Cover-Alben, als Brückenbauerin. Mit phantastischen, entschleunigten Interpretationen stellt sie Verbindungen her, vermittelt zwischen den Generationen. Zudem ist sie eine der ersten, die sich in einem kompletten Konzert an das ehrfurchtgebietende Songbook von Bob Dylan heranwagt, mit großer Selbstverständlichkeit und ungeheurer weiblicher Sensibilität. Nur selten hat man so wie bei diesem Live-Mitschnitt gehört, wie fein diese Sängerin phrasieren kann, wie genau sie Silben und Worte gestaltet.
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