Das Ulitzkaja-Prinzip.
Es ist ein realistisches, lebenssattes und melancholisch-ironisches Erzählen, das den vom Schicksal verwirbelten Lebenskurven von meist Frauen nachgeht. Das bevorzugte Milieu der Künste und Wissenschaften entspricht dem Umfeld der Schriftstellerin, die lange als Genetikerin gearbeitet hat. Man hat es bei Ljudmila Ulitzkajas Romanen und Erzählungen meist mit Büchern zu tun, die Erfahrungen und die Sprache, in der sich das Leben kondensiert, auf selbstverständliche Weise in Einklang bringen. Ihrem neuem Roman „Jakobsleiter“ liegt nun ihre eigene Familiengeschichte zugrunde, sie wolle, sagte die Autorin in einem Interview, deren „Schweigezonen“ erkunden.
Ein Collagenroman
Das treibende Motiv für dieses Buch waren 500 Briefe ihres nahezu unbekannten Großvaters aus den Jahren 1911 bis 1954, die in diesen Roman teils dokumentarisch, teils fiktionalisiert eingeflossen sind. „Jakobsleiter“ ist ein fast altmodisch aufgeblättertes, russisch-jüdisches Familienepos im Spiegel des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt: Jakow Ossetzki, ein Wissenschaftler und leidenschaftlicher Musikliebhaber aus Kiew, und seine Enkelin Nora, die als Bühnenbildnerin am Theater arbeitet. Sie haben sich nur einmal kurz gesehen, als Nora Mitte der 50er Jahre noch ein Kind war, aber sie gehören zusammen. Auf dieses Band zwischen den Generationen spielt der alttestamentarische Titel des Romans an.
Ein Leben in der Revolution
Bedroht ist Jakow Ossetzkis Leben gleich mehrfach. Nach der Revolution zieht er mit seiner Frau Marussja, einer gescheiterten Tänzerin, und dem gemeinsamen Sohn Genrich nach Moskau. Unter Stalin fällt er in Ungnade, als Volksfeind kommt er zunächst in Stalingrad in Haft, dann erfolgt seine Deportation nach Sibirien. Jakow wird in seinem Leben mehr Jahre in Gefangenschaft verbringen als in Freiheit;- seine Frau, der er ergreifende Briefe aus dem GuLag schreibt, verlässt ihn, weil sie längst mit dem Regime konform geht. Jakows Sohn sind als Kind eines vermeintlichen Volksfeindes die Karrierechancen verbaut. Der Roman verhandelt denn auch die Macht des Politischen und die Tyrannei der Mächtigen, es geht um Ankünfte und Aufbrüche, die allerorten von Grenzen umstellt sind. Dabei hat Ljudmila Ulitzkaja eine Schwäche für die allerhöchste Warte, für den philosophischen Jägersitz des Lebens, von dem aus sie – natürlich durch ihre Figuren - geradezu naiv in ihrer Unbefangenheit zu den ganz großen Erklärungen ausholt.
Ich möchte folgendes sagen: Der Tod ist kein Programmausfall, er gehört zum Programm. Beim Schöpfer geht nichts verloren. Das Leben jedes Menschen ist ein Text. Ein Text, den Gott aus irgendeinem Grunde braucht (…) Wir müssen das Leben auf der Erde als einen Text verstehen. Einen göttlichen Text, den wir nicht verfasst haben. (…) Die heutige Menschheit kann sich nicht zügeln, sie lechzt nach Herrschaft, nach Kriegen! Sie will alles verschlingen! Ob Amerika, Russland oder China! Das ist der falsche Weg! Macht die Augen auf!
Gemeinsam mit dem Leser tüftelt Ljudmila Ulitzkaja an den Fragen des Lebens. Noch in all ihren Romanen und Erzählungen arbeitet sie an sozusagen an einer Beweiskette, deren poetische Summe die Existenz ergibt. Jakobsleiter ist ein Roman voller alteuropäischer Sentimentalitäten, ein lebenspraller Schmöker, mit zartem Melos, changierend zwischen Pathos und ironischem Spiel. Dabei ist eine schier grenzenlose solide, erzählerische Lust im Spiel, die sich mit dem Grüblerischen verbindet. Das fällt mal liebenswert aus, dann aber auch aufdringlich plakativ und, schade, voller Plattitüden. Die Idee des alle und alles verbindenden Lebenstextes ist schließlich nicht besonders originell. Aber nichtsdestotrotz taucht man ein in Geschichte und Geschichten, die in das Grenzenlose einer Weltlust vorstoßen.
Ljudmila Ulitzkaja „Jakobsleiter“ für 26 Euro bei Hanser erschienen. Übersetzung: Ganna-Maria Braungard,