Porträt des russischen Politikers
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Nikolai Fjodorow

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Russischer Politiker über Justiz: "Keine Angst vor Freisprüchen"

Kaum ein Angeklagter vor Putins Gerichten kommt ungeschoren davon, und wer im Gefängnis landet, darf nicht auf Milde hoffen: Schlimm sei in Russland nicht nur die Kriminalität, sondern auch das Strafverfolgungssystem, so Experte Nikolai Fjodorow.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das waren noch Zeiten, als in Russland so viele Angeklagte freigesprochen wurden, dass der Schriftsteller Fjodor Dostjewski klagte: "Durch strenge Strafen, Gefängnis und Zuchthaus, könntet ihr vielleicht die Hälfte der Beschuldigten retten. Ihr würdet ihnen die Last leichter, nicht schwerer machen. Die Reinigung durch Leiden ist leichter als das Schicksal, das ihr vielen von ihnen durch einen Freispruch bereitet." Damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, nach einer großen Justizreform, sollen rund vierzig Prozent der Angeklagten ungeschoren davon gekommen sein, was den ehemaligen Häftling Dostojewski, der sich zum Konservativen gewandelt hatte, umtrieb. Sogar unter Stalin erbarmte sich die Justiz in etwa zehn Prozent aller Fälle, wie Nikolai Fjodorow jetzt vorrechnete, der stellvertretende Vorsitzende im russischen Föderationsrat und damit einer der formell wichtigsten Politiker.

"Russische Ermittler deutlich effizienter"

Unter Putin allerdings darf so gut wie niemand mehr mit einem Freispruch rechnen. 2022 kamen laut offizieller Statistik nur 0,33 Prozent aller Angeklagten gänzlich ungeschoren davon. Den 614.725 Verurteilten standen somit gerade mal 2.062 Freigesprochene gegenüber, und bei denen handelte es sich überwiegend um Angeklagte in "privaten" Streitigkeiten, an denen der Staatsanwalt nicht beteiligt war. Wenn die Ermittlungsbehörden loslegen, halbiert sich die Zahl der Freisprüche auf aktuell weniger als 0,15 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland gab es 2020 nach Angaben des Statistischen Bundesamts knapp 700.000 Urteile, dem rund 150.000 Freisprüche oder Verfahrenseinstellungen gegenüberstanden. Im Übrigen sinkt die Zahl der Verurteilungen seit Jahren, zuletzt um fünf Prozent.

Ebenso aussagekräftig wie die russischen Zahlen über die Freisprüche ist die dortige Statistik über die Dauer der Gefängnisaufenthalte. Demnach sitzen Häftlinge in Russland durchschnittlich gut zwei Jahre ab und sind damit mehr als doppelt solang hinter Gittern wie in Westeuropa. Die Rückfallquote verbessert diese "harte Gangart" allerdings nicht: Sie liegt drei Mal so hoch wie im Westen.

Nikolai Fjodorow hat dazu eine klare Meinung, die in Russland für Aufsehen sorgt: "Solche Statistiken weisen nicht nur auf Kriminalität hin, sondern, was noch schlimmer ist, auf die Kriminalität des russischen Strafvollzugssystems selbst. Sind Gefängnisse in unserem Land wirksam, was die Besserung und Umerziehung von Sträflingen angeht? Das ist eine rein rhetorische Frage." Mit ungewöhnlich scharfen Worten geißelt Fjodorow die russische Justiz als "bösartig" und macht sich über Generalstaatsanwalt Alexander Bastrykin lustig, der die verschwindend niedrige Zahl der Freisprüche damit begründet habe, das die russischen Ermittler halt deutlich "effizienter" arbeiteten als ihre Kollegen im westlichen Ausland.

"Das Lager soll eine Strafe sein!"

"Wenn in Russland eine Person in die Fänge der Büttel der Justiz gerät, muss sie unbedingt inhaftiert werden. Andernfalls handelt es sich demnach um ein Versagen des Ermittlers, des Staatsanwalts, des Richters, was sich natürlich auf deren Karriere auswirkt", so Fjodorow bitter. Er verweist sogar auf Alexander Solschenizyns berühmten Klassiker "Archipel Gulag" über das sowjetische Lagersystem, wo der Autor von einer Unterhaltung mit einem Gefängnischef berichtet. Der habe mit "eisigem Unverständnis" auf die Bitte reagiert, die Haftbedingungen zu verbessern und auf eine Frage nach einer möglichen Wiedereingliederung der Betroffenen in die Gesellschaft geantwortet: ""Zurückkehren? Dafür ist das Lager nicht da. Das Lager soll eine Strafe sein!"

Fjodorow forderte in aller Deutlichkeit, mit den bisherigen Zuständen der russischen Justiz zu "brechen" und "alternative Strafen viel umfassender" anzuwenden: "Auch wenn es jetzt nicht selbstverständlich ist, sollten wir uns aktiver mit den Erfahrungen in anderen Teilen der Welt befassen. Beachten Sie die Schlussfolgerungen von Experten, dass menschliche Bedingungen an Stätten des Freiheitsentzugs dazu beitragen, dass Verurteilte schneller in die Gesellschaft zurückkehren und keine erneuten Fehler mehr machen." Konkret gehe es darum, dem alten Rechtsgrundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" in Russland wieder zur Gültigkeit zu verhelfen: "Haben Sie keine Angst vor Freisprüchen!"

In diesem Zusammenhang erinnerte Fjodorow an angebliche Zitate von Zar Peter dem Großen und seiner Nachfolgerin Katharina: "Es ist besser, zehn Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen zu verurteilen."

"Qualität der Ermittlungen verschlechtert"

In russischsprachigen Exilmedien wie der "Moscow Times" wurde ironisch darauf hingewiesen, dass ein Angeklagter in Russland weniger Chancen auf einen Freispruch habe als ein Roulette-Spieler, der auf eine von 36 Zahlen setze. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass Putin die Gehälter der russischen Richter zum 1. Oktober um 5,5 Prozent anhob. Unausgesprochen schwang dabei der Gedanke mit, dass der Präsident "seine" Justiz damit bei Laune halten will.

Aufschlussreich sind die persönlichen Erfahrungen von Anwalt Grigori Sabolotsky, der darauf verwies, dass Richter und Staatsanwälte gleichermaßen an einer "Erfolgsstatistik" interessiert seien, die sich nach Schuldsprüchen richte. So nannte er einen Richter, der in seiner elfjährigen Tätigkeit angeblich keinen einzigen Angeklagten freigesprochen habe. Rekrutiert würden die Richter heutzutage nicht mehr aus den Reihen von Anwälten, Menschenrechtsaktivisten und Rechtsprofessoren, wie ehedem, sondern fast ausschließlich aus dem Beamtenapparat: "Ich möchte Ihnen gleich sagen, dass sich die Qualität der Ermittlungen deutlich verschlechtert hat. Auch die staatsanwaltschaftliche Aufsicht lässt zu wünschen übrig. Und ich denke, das ist die Hauptursache für die Entwicklung, wissen Sie? Nehmen Sie einen beliebigen Fall, den wir bearbeiten, wir haben schwierige Fälle, und in fast jedem werden die Tatsachen verfälscht."

"Unter ständiger polizeilicher Aufsicht"

Gegenüber der aktuellen Situation seien sogar die sowjetischen "Volksgerichte" gerechter gewesen. Sabolotsky äußerte den Verdacht, dass es russischen Richter insgeheim "verboten" sei, Angeklagte freizusprechen, weil das als Niederlage des Apparats gewertet werde und die Betroffenen dann Anspruch auf Prozesskostenerstattung hätten: "In der Regel geht den Menschen nach zwei oder drei Jahren vorläufiger Ermittlungen und Gerichtsverfahren die Puste aus. Und gleichzeitig ist der Zynismus allgegenwärtig."

Die "Nesawissimaja Gazeta" berichtete derweil, dass "Bürger, die mit der Regierung nicht einverstanden" seien, nach einer neuen Anordnung des russischen Innenministeriums künftig "unter ständiger polizeilicher Aufsicht" stünden. Das sei Teil einer neuen "Vorbeugungs"-Offensive der Justiz: "Daher müssen die örtlichen Kommissare bald nicht nur ehemalige Gefangene, Betrunkene, Drogenabhängige und Rowdys aller Art unter Aufsicht nehmen, sondern auch die wichtigsten Kategorien von Bürgern, die mit den Behörden nicht einverstanden sind." Von den zuständigen Stellen werde dabei eine "tadellose Uniform" erwartet.

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