Diese beiden wirken so vergnügt, dass man leicht übersehen kann, was sie da eigentlich treiben. Mit voll beladenem Einkaufswagen schlendern sie durch die Regalreihen des Supermarkts. Ein gewöhnlicher Feierabendeinkauf, das ist der erste Eindruck, bis einem diese kleinen Gesten auffallen, die eine andere Geschichte erzählen. Die aufmerksame Haltung des Sohnes zum Beispiel. Jede Bewegung des Vaters hat er im Blick und stibitzt, sobald der ein Stück in den Wagen wirft, flugs ein anderes. Ist schließlich genug Beute in seinen Hosen- und Jackentaschen gelandet, lassen Vater und Sohn den Wagen samt Inhalt stehen und spazieren Seite an Seite nach Hause.
Was ist eigentlich ein Zuhause?
An diesem Abend begegnen sie auf ihrem Weg durch Tokio einem Mädchen. Ausgesprochen dünn ist die Kleine, die da alleingelassen in der Kälte steht. Und Vater und Sohn nehmen sie, so unbekümmert, wie sie sich zuvor an Keksen und Shampoo bedient haben, mit nach Hause. Yuri – so heißt das Mädchen – bleibt nicht nur auf ein Essen. Sie wird fraglos von der unbekannten Familie aufgenommen: Niemand hat Bedenken, sie ihren Eltern vorzuenthalten. Eine Entführung sähe anders aus, und die blauen Flecken der Kleinen verrieten doch genug über deren Familie. Ab sofort steht also ein weiterer Teller auf dem Tisch, und Yuri zieht mit, wenn Vater und Sohn sich wieder einmal auf den Weg in den Supermarkt begeben oder ein Ausflug an den Strand ansteht.
Über den herzlichen Pragmatismus dieser Familie kann man sich nur wundern. Bis man versteht: Alles ist hier unkonventionell. Vater, Mutter, Kind – die Kategorien greifen nicht. Sie alle haben sich diese Familie ausgesucht. So zumindest sehen sie das. Die Behörden, die den Verbund bald auflösen werden, haben kein Verständnis für die freie Interpretation des Begriffs "Familie". Die so selbstgewiss fragenden Bürokraten wissen ganz genau, wer an welchen Platz gehört: Die Frau ins Gefängnis, der Vater möglichst isoliert in eine Einzimmerwohnung, der Junge ins Heim und Yuri zu ihrer Familie. "Shoplifters", in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, zeigt etwas anderes – er zeigt, dass Orte ein Zuhause und Menschen eine Familie werden können, auch wenn sie nicht miteinander verwandt sind. Einfach nur, weil sie sich gemeinsam über geklautes Essen freuen und ihr Leben in Armut nicht mehr allein meistern müssen.
Zärtliche Bilder, aber kein Kitsch
Dafür findet Regisseur Hirokazu Koreeda zärtliche Bildern aus dem Alltag: Wenn Vater und Sohn nebeneinander einschlafen zum Beispiel – wenn die Köpfe, der eine groß, der andere klein, einander zugewandt sind und sich die Stimmen im Dunkel der Nacht vermischen. Ganz ähnlich die Szene, in der die neue Mutter Yuris Hämatome sieht, keine Fragen stellt, sondern die Kleine einfach in den Arm nimmt.
Vieles klingt kitschig an diesem Film. Aber Kitsch beschreibt gerade nicht die Art und Weise, mit der Hirokazu Koreeda die Familie porträtiert. Das beginnt schon bei der Musik, die den Szenen immer etwas Spielerisches, Leichtes gibt. Und auch die Bildsprache ist alles andere als romantisierend. Eigentlich ragt immer etwas Störendes ins Bild hinein. Kaum eine Einstellung, in der nicht eine herumstehende Kiste oder eine Tischkante den Blick auf die Familie versperren würde. Ihre Hütte am Rande Tokios ist schlicht zu klein für ein akkurat komponiertes Bild, genauso wie sie zu klein ist, um die Frage nach einer akkuraten Lebensweise überhaupt zu stellen. Die einzige Frage, die hier bleibt, ist: Wie sich ein Leben führen lässt, wie es sich gestalten lässt, wenn man am Rande der Gesellschaft steht, ein Taugenichts ohne Aufgabe. Und davon weiß der Regisseur mit seinem ungewöhnlichen Familiengespann einiges zu erzählen.
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