Ukraine, Novotroitske: Ukrainische Grenzbeamte stehen an einem Kontrollpunkt zwischen dem von den von Russland unterstützten Separatisten kontrollierten Gebiet und dem von den ukrainischen Streitkräften kontrollierten Gebiet in der Ostukraine.
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Ukraine-Krieg: Geschichtsrevisionismus nach Solschenizyn-Art

Ukraine-Krieg: Geschichtsrevisionismus nach Solschenizyn-Art

Die Blaupause für die Strategie des russischen Präsidenten Vladimir Putin hat der berühmte Schriftsteller Alexander Solschenizyn geliefert, sagt Osteuropa-Experte Johannes Grotzky.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Nach langen Wochen des Verhandelns und neu Verhandelns eskaliert die Russland-Ukraine-Krise. Ein Gespräch mit Johannes Grotzky, langjähriger Ost-Europa-Korrespondent des BR und der ARD, der jetzt an der Uni Bamberg Osteuropa-Wissenschaften lehrt.

Judith Heitkamp: Die Olympischen Spiele sind vorbei, die Ukraine-Krise eskaliert. Wir hatten ja alle gehofft, dass das nicht der Fall sein würde. Haben Sie damit gerechnet?

Johannes Grotzky: Ja und nein. Natürlich habe ich nicht mit diesen unmittelbaren militärischen Konsequenzen gerechnet, weil ich glaubte, Putin sei etwas berechenbarer, als er ist. Aber in der Tat gibt es einen geistesgeschichtlichen Hintergrund für das, was dort bei Putin stattfindet. Das ist nicht pure Machtpolitik, sondern Geschichtsrevisionismus, der zurückgeht auf Haltungen, die Putin von anderen übernommen hat. Der wichtigste Protagonist wäre Alexander Solschenizyn, ein hochgelobter Schriftsteller, der aber selbst im Exil in Amerika westliche Sichtweisen, westliches Demokratieverständnis zutiefst kritisiert hat. Und von dem stammt 1990 ein Büchlein, das heißt auf Deutsch "Russlands Weg aus der Krise". Und diese Schrift liest sich wie eine Blaupause der heutigen Regionalpolitik von Putin, nämlich: der Ukraine keine Nationalität zugestehen, Abchasien, Südossetien von Georgien wegnehmen - ist bereits erfolgt - den Donbass, die Krim zurück an Russland führen, was jetzt gerade passiert ist. Und es geht noch weiter. Solschenizyn will auch, dass der Norden Kasachstans, der russisch besiedelt ist, wieder an Russland angegliedert wird. Insofern muss man auch darauf achten, dass die Dinge, die in Kasachstan gerade passiert sind und von uns nicht wirklich wahrgenommen worden sind - dass die auch in dem Zusammenhang mit dem großen geistesgeschichtlichen Geschichtsrevisionismus stehen können.

In der Fernsehansprache, die Putin gehalten hat, hat er erklärt, wie er auf die Ukraine schaut, die nie eine echte Staatlichkeit besessen habe. Und er hat sich dabei auf Lenin berufen.

Das ist eine Sache, die ist sehr alt. Wir hätten, denke ich, immer wieder mal hinschauen müssen, was unter dem Namen Putin veröffentlicht worden ist. Seit ungefähr anderthalb Jahren gibt es regelmäßig Geschichtsaufsätze von ihm, in denen genau das drinsteht, was er gestern in der langen Rede wörtlich wiederholt hat. Nämlich, dass die Ukraine nie eigenstaatlich gewesen sei, sondern immer Teil Russlands. Was nicht für die ganze Ukraine stimmt. Beispielsweise hatte Kiew im 15. Jahrhundert Magdeburger Stadtrecht, Lemberg in der Westukraine - Lwiw auf Ukrainisch - hat nie zu Russland gehört, sondern immer zu Polen, Litauen oder zu Österreich-Ungarn. Nur die östlichen Teile der Ukraine haben ursprünglich zu Russland gehört, nachdem Kiew ja auch lange unter polnisch-litauischer Herrschaft stand. Dass das nicht eine Eigenstaatlichkeit war, das stimmt. Die ist tatsächlich in dieser großen Form erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts formiert worden, und in der Sowjetzeit ist die heutige Ukraine geprägt. Das ist auch richtig. Aber dann müsste man auch sagen - dann müsste man auch alle anderen Staaten, die mit dem Zerfall des Ersten Weltkrieges Eigenstaatlichkeit erhalten haben, genauso in Frage stellen. Das wäre der gesamte Bereich von Mitteleuropa, der aus dem Habsburgerreich hervorgegangen ist! Die Eigenstaatlichkeit der Staaten in Frage stellen, die aus dem Zerfall des Osmanischen Reiches hervorgegangen sind ... da geht Putin einen Weg, der eigentlich die Welt in die Luft sprengen würde.

Sie waren selbst sehr oft in der Ukraine. Wie schätzen Sie die Lage in der Ostukraine jetzt ein? Wie gehen die Menschen dort mit solchen Vorstellungen um?

In der ersten Zeit war es noch einfacher, direkte Kontakte zu halten. Es ist immer schwieriger geworden. In der Ostukraine - auf beiden Seiten dieser Kampflinie - haben viele Menschen das, was dort passiert, so empfunden wie wir die deutsche Spaltung. Auch wenn das aus der heutigen Sicht etwas merkwürdig klingt ... Die Familien sind tatsächlich gespalten. Ein Teil ist von der Ostukraine aus Richtung Russland weitergegangen, die anderen sind aus der Ostukraine Richtung Zentral-Ukraine gegangen. Auf beiden Seiten kämpfen Familienangehörige aus derselben Familie, Brüder aus derselben Familie auf unterschiedlichen Seiten. Dieser Krieg ist auch ein Krieg der Oligarchen geworden, der ganze politische Machtkampf in Kiew ist weit von jeder Demokratie weg. Die haben zum Teil private Brigaden bezahlt, die ebenfalls auf beiden Seiten kämpften, weil sie nicht wussten, wer der Sieger sein wird aus diesem Kampf. Die Gemengelage ist außerordentlich kompliziert.  Bis heute haben natürlich nur noch ganz wenige Alte dort ausgehalten, die meisten Menschen sind aus den Kampfgebieten raus. Im Osten ist es so, dass Putin veranlasst hat, dass die alle in die russischen Sozialsysteme, in die politischen und Pakt-Systeme überführt werden. Während die Ukraine selbst ja den Bewohnern der Gebiete praktisch jede soziale Anbindung an das Land untersagt hat.

Wie ist es in Russland? Die Nachrichten, die die Menschen dort bekommen, sind möglicherweise völlig anders als bei uns. Gehen die Menschen mit Putin mit?

Ja und Nein … das erste ist, dass viele Freunde mich besorgt über soziale Medien anschreiben und fragen: Warum wollt ihr diesen Krieg gegen Russland führen? Warum will Amerika uns mithilfe der Ukraine angreifen? Dort ist das Bild, dass der Westen aktiv einen Krieg vorbereitet, der sich gegen Russland richtet. Und das zweite ist, dass es sehr viel Verständnis dafür gibt, das "Russländische" zusammenzuführen. Denn Putin hat ja eine neue nationale Ideologie. Er will nicht das russische, sondern das russländische Volk - alles, was irgendwie früher mal im Zarenreich war. Putin will weiter zurück als nur zur Sowjetunion. Letztlich zielt er auf das zaristische Russland ab.

Das Interview lief am 22. Februar 2022 in der Kulturwelt auf Bayern 2

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