Die österreichische Journalistin und Schriftstellerin Doris Knecht
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Die österreichische Journalistin und Schriftstellerin Doris Knecht

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Was Frau nicht braucht – Doris Knecht entrümpelt Erinnerungen

Die Kinder ziehen aus, die Wohnung wird zu groß – und was jetzt? Im neuen Roman der Österreicherin Doris Knecht wird Inventur gemacht, verräumt, verschenkt, vergessen und verloren. Aber nicht alles.

Über dieses Thema berichtet: Die Kultur am .

"Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" – der Romantitel ist natürlich schon mal ein Widerspruch in sich. Wer könnte eine Liste verfassen mit Dingen, die er nicht mehr weiß? Und doch kommt vieles zurück, manches auch nur, um gleich wieder zu verschwinden, in dieser Inventur-Situation, in der die Erzählerin sich befindet: Die Kinder werden erwachsen und ziehen aus. "Die Wohnung zerfällt von fast 20 Jahren Familie", so heißt es an einer Stelle, ist jetzt zu groß – und zu teuer. Ausmisten, abgeben, loslassen ist gefragt.

Ausmisten, abgeben, loslassen

"Man hat ja gelernt, dass Vergessen und Verlieren was Schlechtes ist. Das hat was mit Werten zu tun, die man leichtfertig aufgibt, indem man nicht auf sie aufgepasst hat, mit Geld, mit Dingen, die einem was bedeuten – aber es kann auch befreiend sein, eine bestimmte Sache nicht mehr zu haben, von der man glaubte, man braucht sie unbedingt. Und so ähnlich ist es auch mit Erinnerungen: Man hat gelernt, dass man keine Erinnerungen aufgeben soll oder darf. Aber es kann manchmal gut sein, Dinge abzulegen und liegenzulassen und dann zu merken, die brauch' ich nicht mehr. Und dann verschwinden sie auch irgendwann …", sagt Doris Knecht über ihren neuen Roman. Und so landen ganze Kapitel mit Geschichten von früher bei einem Fragezeichen. Vielleicht war es auch anders. "Kürzlich, als ich bei einem Essen Marcel fragte, ob er sich an die Reise erinnere, erzählte er alles anders und in ganz anderer Reihenfolge, und zuerst wollte ich meine Erinnerung korrigieren, beschloss dann aber, dass es eigentlich egal ist. Es spielt keine Rolle mehr, was wann war, ob meine Erinnerung stimmt oder seine. Es ändert nichts mehr, für niemanden. Wir waren dort, es war schön, und das Licht war ganz golden."

Vielleicht war es auch anders

Doris Knecht hat mit ihrer Figur bestimmt einiges gemein. Und gleichzeitig spielt sie demonstrativ mit der Fiktion – an einer Stelle zum Beispiel macht die Erzählerin, auch eine Schriftstellerin, aus der Tochter kurzerhand einen Sohn. Denn – autofiktional oder nicht, auch das sei am Ende nicht ausschlaggebend, sagt Knecht; Hauptsache, die Geschichte funktioniert. Welche Geschichte also erzählt diese wie Knecht in Wien und auf dem Lande lebende Erzählerin sich – und uns? Hatten die Schwestern doch recht, die alle brav Häusle gebaut haben, nur sie nicht? Sagt jede kleinere Wohnung nicht irgendwie: Du hättest es besser haben können, aber so, als Alleinerziehende, reicht das Geld eben nicht für mehr? Also leider kleiner Irrtum beim Lebensentwurf? Oder haben wir es hier eher damit zu tun, dass wir es so gewohnt sind, Geschichten von älter werdenden Frauen als Niedergang erzählt zu bekommen und nicht anders?

Leider kleiner Irrtum beim Lebensentwurf?

Die Autorin jedenfalls widersetzt sich dem, mit Verve: "Ich wollte ein Buch schreiben, das das Älterwerden nicht in eine traurige Ecke zieht, sondern auch etwas erzählt über Befreiung und loslassen können und weggeben können … und dann schön neu anfangen können." Und was heißt schon "traurige Ecke"? Der Möglichkeiten können zu viele oder zu wenige sein, beides schwierig, die Freunde zu anwesend oder zu entfernt, die Wohnung zu neu oder zu alt, die Eltern spießig UND liebevoll, die Kinder anhänglich UND weg – es liegt immer im Auge der Betrachterin. Fast überrascht klingt es, wenn Knecht feststellt, dass dann vieles wirklich zum Positiven ausschlägt, sehr froh sei sie, diese Figur mit einer gewissen Zuversicht rauszuschicken aus diesem Buch.

Verlieren und Vergessen als Kulturtechnik

Und so etabliert Doris Knechts neuer Roman das Verlieren, Vergessen, Verschenken, Verräumen als zukunftsfähige Kulturtechniken. Und keine Sorge – behalten wird auch. Stück für Stück, Kapitel für Kapitel hangelt der Text sich von Ding zu Ding, von Stichwort zu Stichwort, manches geht, manches bleibt. Bis am Ende das Bild einer vielschichtigen Persönlichkeit entstanden ist. Und das einer vielschichtigen Lebensphase.

Doris Knecht: "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" ist bei Hanser Berlin erschienen.

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