Kletterwand im Freien mit bunten Griffen
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Essstörungen im Klettersport - ein unterschätztes Tabu

Je leichter, desto besser, das klingt vor allem beim Klettern einleuchtend. Viele Wettkampf-Kletterer, aber auch Amateure, kämpfen mit Essstörungen. Die sind oft ein Merkmal des RED-Syndroms – ein gefährlicher Energiemangel im Sport.

Über dieses Thema berichtet: Rucksackradio am .

Wenn die Gedanken ständig ums Essen kreisen, dann läuft etwas falsch. Das wusste auch die Spitzensportlerin Eva van Wijck, die seit einem halben Jahr in Innsbruck lebt. Mit 16 Jahren hat sie das Klettern angefangen. Ihre Essstörung war vorher schon da. Dünn, durchtrainiert und ohne ein Gramm Fett, so hat sie die Top-Kletter-Frauen wahrgenommen und genauso so wollte sie auch aussehen.

Stolz auf die Kontrolle des Körpers

Die 27-jährige gebürtige Niederländerin sagt im Gespräch mit BR24: "Ich glaube, ich war sogar stolz darauf - ich kann das, ich habe die Kontrolle über meine Ernährung. Die anderen sind dumm – sie wissen nicht, dass alles, was sie essen, ungesund ist, ich weiß es, aber ich sag' es ihnen nicht, sondern behalte es für mich." Menschen, die an einer Essstörung leiden, tun alles, um ihr Verhalten zu verbergen. Im Wettkampfklettern sind viele davon überzeugt, dass sie nur dann besser werden, wenn sie leichter sind.

Keine Fortschritte – die Kraft fehlte

Bei Eva van Wijck hat das nicht funktioniert. Sie machte keine Fortschritte, obwohl sie so leicht war. Ihr fehlte einfach die Kraft. Sie war müde, sah ungesund aus und ihre Haare waren matt. Freunde und Eltern machten sich Sorgen. Ihre Mutter nahm sie nach Jahren mit zu einer Fachärztin für Sport und Ernährung. Die sagte der jungen Sportlerin, wenn sie im Klettern besser werden wolle, dann müsse sie besser essen.

RED-Syndrom als unterschätzte Gefahr

Diese Form der Essstörung gehört zum RED-Syndrom – ein relatives Energie-Defizit im Sport. Sogar eine erste, spezielle Ambulanz für REDs bei Kadersportlern gibt es. Eröffnet hat sie Christine Kopp vom Universitätsklinikum Tübingen. Die Allgemeinärztin und Sportmedizinerin stellt bei der jährlichen Untersuchung von Leistungssportlern auch Fragen zur Ernährung. Es sind vor allem die Spätfolgen einer Essstörung, vor denen Christine Kopp warnt.

Keine Periode, mangelnde Knochendichte

Chronische Müdigkeit, erhöhte Infekt-Anfälligkeit, Schilddrüsen-Unterfunktion, mangelnde Knochendichte – all das sind mögliche Auswirkungen des RED-Syndroms, sagt Dr. Christine Kopp im Gespräch mit BR24. Es gebe Frauen, die mit 25 Jahren noch keine Regelblutung hatten. Da müsse schnell reagiert werden. Im schlimmsten Fall könnten junge Frauen auch an Magersucht sterben, sagt die Sportmedizinerin. Betroffen sind aber auch Männer. Inzwischen werden Trainer geschult, damit sie mögliche Alarmsignale erkennen. Bei einigen Sportarten haben die Verbände bereits reagiert.

Sportverbände können reagieren

Die Sportart rhythmische Sportgymnastik hat laut Kopp zum Beispiel proaktiv reagiert. Die Athletinnen werden regelmäßig intensiv untersucht, befragt und diagnostiziert, wenn es Auffälligkeiten gibt. Beim Internationalen Kletterverband tut sich hingegen wenig – viel zu wenig, sagt der Sportmediziner Volker Schöffl, der 14 Jahre lang die deutschen Leistungssportler mit betreut hat. Er hat im Juli 2023 sein Ehrenamt niedergelegt – aus Protest.

Schöffl habe das Thema Mangelernährung vor Jahren aufgegriffen und forderte vom Weltverband für Klettern stärkere Schritte zum Schutz der Athletinnen, die betroffen waren – und zum Schutz vor einer Idol-Funktion im gesamten Sport, vor allem für Jüngere, so Schöffl im BR24-Gespräch. Es sei wenig bis gar nichts passiert, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als zurückzutreten.

Freiwillige BMI-Messungen bei Deutschen Meisterschaften

Bei den Deutschen Meisterschaften im Lead am Sonntag (ab 10 Uhr live im Stream bei BR24Sport) in Augsburg wurden erstmals freiwillige BMI-Messungen bei den Athletinnen und Athleten durchgeführt. Nico Schlickum, Funktionstrainer für Bildung und Wissenschaft, sah dies als Schritt in die richtige Richtung. "Wir wollen den Athleten signalisieren: 'Wir schauen hin, wird sind für euch da.' Wir haben darauf super cooles Feedback bekommen", sagte Schlickum im BR24-Interview am Rande der Deutschen Meisterschaften.

Nico Schlickum im BR24Sport-Interview
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Nico Schlickum im BR24Sport-Interview

Raus aus der Tabuecke

Was vielen in der Szene hilft, sind Spitzensportlerinnen wie Eva van Wijck, die ihre eigene Geschichte bekannt machen. Die 27-Jährige arbeitet als Journalistin und Autorin – und hat vor Jahren für den niederländischen Kletterverband einen persönlichen Bericht über ihre Essstörung geschrieben. Viele hätten damals auf ihre Offenheit reagiert. Auch in diesem Sommer hat sie sich nach dem Rücktritt von Volker Schöffl auf Instagram gemeldet. Essstörungen im Klettersport seien noch immer zu wenig bekannt, sagt Eva van Wijck. Sie selbst hat ihre schwierigste Zeit hinter sich, ist heute 13 Kilogramm schwerer und klettert besser als damals. Doch es bleibt noch viel zu tun, sagt sie.

Hilfe bei RED-Syndrom

Wer in seinem Freundeskreis mitbekommt, dass es Anzeichen für eine Essstörung gibt, soll auf jeden Fall reagieren, sagt Eva van Wijck. Es sei besser, jemanden anzusprechen, dass man sich Sorgen macht, als ihn zu schimpfen und Vorwürfe zu machen: Du bist zu dünn, du musst mehr essen, du siehst nicht gesund aus - das funktioniere nicht, so die Kletterin im BR24-Gespräch. Ein Gesprächsangebot sei immer gut.

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