Es ist einer der größten Finanzskandale in der Geschichte der Bundesrepublik: Der Zusammenbruch des Zahlungsdienstleisters Wirecard aus Aschheim bei München. Mehr als 20 Milliarden Euro wurden vernichtet. Bis heute sind die Hintergründe nicht aufgeklärt. Vor allem eine Frage ist nach wie vor strittig: Hat es das Geschäft mit den sogenannten Drittpartnern, das für den Großteil der angeblichen Konzern-Gewinne gesorgt haben soll, wirklich gegeben?
Reporter von BR Recherche haben exklusiv Daten von 500.000 Überweisungen, die im Jahr 2018 über Konten bei der Wirecard-Bank gelaufen sind, analysiert. Die Daten stammen aus dem E-Mail-Postfach des früheren Wirecard-Vorstands Jan Marsalek. Dieser hatte sie sich im Juni 2019 bei der Bank besorgt. Die Unterlagen geben Aufschluss darüber, was wohl wirklich hinter dem sogenannten Drittpartner-Geschäft von Wirecard gesteckt hat. Sie zeigen, woher hohe Guthaben von Drittpartnern wie Payeasy und Centurion auf Konten bei der Wirecard-Bank stammten und wohin das Geld abfloss.
Staatsanwaltschaft und Insolvenzverwalter sicher – Drittpartnergeschäft existierte nicht
Für die Münchner Staatsanwaltschaft ist der Fall klar: Laut ihrer Anklage gegen den ehemaligen Wirecard-Chef Markus Braun und zwei weitere Beschuldigte war das Geschäft mit den Drittpartnern frei erfunden. Vor allem in Asien sollen diese Drittpartner für Wirecard Zahlungen abgewickelt haben, so die offizielle Darstellung. Treuhandkonten auf den Philippinen und in Singapur, die mit Kommissionen aus diesem Geschäft in Höhe von zuletzt 1,9 Milliarden Euro gefüllt sein sollten, waren aber leer. Der Insolvenzverwalter von Wirecard, Michael Jaffé, hält in einem seiner jüngsten Sachstandsberichte ebenfalls fest, die Untersuchungen seines Teams hätten "keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es das angebliche TPA-Geschäft der Wirecard (…) tatsächlich in nennenswertem Umfang gegeben hat".
Markus Braun und sein Verteidiger Alfred Dierlamm dagegen argumentieren, es habe sehr wohl ein umfangreiches Drittpartner-Geschäft existiert. Auf BR-Anfrage teilt Dierlamm mit, "nur auf den (…) inländischen Konten der Wirecard-Drittpartner (…) sind Einzahlungen von rund zwei Mrd. € dokumentiert, die zum ganz überwiegenden Teil Kommissionszahlungen aus dem Wirecard-Drittpartnergeschäft sind". Allerdings habe eine Bande um Marsalek diese Firmenerlöse veruntreut. Der ehemalige Wirecard-Chef Braun, der weiterhin in Untersuchungshaft sitzt, sei zu Unrecht angeklagt. Dierlamm fordert von der Staatsanwaltschaft deswegen eine "umfassende Aufklärung, die diesem schwerwiegenden Fall mit seinen dramatischen Auswirkungen und seiner hohen Publizität gerecht wird". Die Staatsanwaltschaft wirft Braun unter anderem Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor.
Hunderte Millionen Euro verschwinden auf Offshore-Konten
Tatsächlich zeigen die Kontodaten, die BR Recherche vorliegen: Angebliche Drittpartner wie Payeasy und Centurion mit Sitz auf den Philippinen haben hohe Millionenbeträge von verschiedenen Firmen bekommen. Dieses Geld, in der Summe hunderte Millionen Euro, floss dann weiter auf andere Firmenkonten. Was steckt dahinter?
Besonders auffällig sind dabei Überweisungen von Payeasy. Die Firma hat 2018 jeden Monat hohe Beträge an die Pittodrie Finance Limited in Hong Kong gezahlt, insgesamt 100 Millionen Euro. Die Recherchen zeigen, dass es sich bei Pittodrie um eine Tochter des Schweizer Finanzkonzerns Monterosa handelt. Das Unternehmen verdient unter anderem mit Investmentfonds sein Geld, die auf verschwiegenen Offshore-Finanzplätzen wie Mauritius beheimatet sind. Zu Pittodrie will sich Monterosa nicht detailliert äußern. Schriftlich teilt eine Sprecherin lediglich mit, man unterstütze die Bemühungen der Ermittlungsbehörden im Fall Wirecard: "Ohne in den Fall verwickelt zu sein, ist es uns ein Anliegen, einen Beitrag zur Klärung beisteuern zu können." Bei wem das Geld letztlich gelandet ist, bleibt unklar.
Auch der Wirecard-Drittpartner Centurion wurde wie Payeasy von den Eheleuten Belinda und Christopher B. von Manila aus kontrolliert. Centurion leitet 2018 unter anderem mehr als 40 Millionen Euro an Briefkastenfirmen auf der Karibikinsel Antigua und nach Indonesien weiter. Die Firmen haben nichtssagende Namen wie CC Consultancy Management Service, DR Technologies und Call Centre Services. Informationen gibt es über sie kaum. Der ehemalige Wirecard-Chef Markus Braun bestreitet, damals von solchen Transaktionen gewusst zu haben. Er behauptet, das Geld hätte Wirecard zugestanden, weil es aus Drittpartnergeschäften stammte.
Millionen-Konzern in Prager Wohnhaus?
Der umfangreiche Datensatz an Überweisungen zeigt erstmals detailliert, wo hohe Guthaben der angeblichen Drittpartner auf Konten bei der Wirecard-Bank hergekommen sind. So hat von Januar bis Dezember 2018 eine Firma namens Xprt Services S.R.O. in mehr als 50 Tranchen über 19 Millionen Euro auf ein Centurion-Konto überwiesen. Als Eigentümer von Xprt Services ist im tschechischen Handelsregister der Name Roni R. eingetragen. R. ist auch bei zahlreichen anderen Firmen aktiv.
Die Anschrift der Firma in Prag führt zu einem Wohnhaus. Nachdem der Geschäftsmann auf eine schriftliche Anfrage zu den Überweisungen nicht reagiert hat, klingeln BR-Reporter in der vergangenen Woche an der angeblichen Firmenadresse von Xprt Services. Roni R. meldet sich durch die Gegensprechanlage mit seinem Namen. Seine Stimme klingt durch den kleinen Lautsprecher blechern. Er fordert die Reporter auf, sich später noch einmal zu melden. Zu einem ausführlichen Gespräch kommt es aber auch später nicht, die Tür bleibt geschlossen. So bleibt ungeklärt, wie eine Firma mit Sitz in einem Prager Wohnhaus und einem Umsatz von rund 30.000 Euro im Jahr 2018 insgesamt 19 Millionen Euro an den Drittpartner Centurion überweisen konnte.
Der angeklagte Markus Braun und sein Anwalt behaupten, die 19 Millionen Euro seien Gebühren aus dem Geschäft mit Zahlungsabwicklungen, die Wirecard zustehen würden. Allerdings müsste dieser Summe nach Schätzung von Experten ein Handelsvolumen in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro zugrunde liegen. Dabei hat es die Firma nur zwei Jahre lang gegeben. Schon 2019 wurde sie wieder aufgelöst.
Ein Geschäftsfreund von Jan Marsalek in Prag
Die Firma Neo Charge aus Bratislava hat den Bank-Daten zufolge 2018 ebenfalls regelmäßig hunderttausende Euro an den Wirecard-Drittpartner Centurion überwiesen. Nach BR Recherchen steht hinter dieser Firma unter anderen der Geschäftsmann Avi V. Die BR-Reporter stoßen bei ihren Recherchen auf zahlreiche E-Mails, die Avi V. in den vergangenen Jahren an den flüchtigen Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek geschrieben hat. Immer wieder geht es um gemeinsame Geschäftsmöglichkeiten, die Avi V. mit Marsalek umsetzten will. Porsche-Fan V., der einen niederländischen und einen israelischen Reisepass hat, ist zudem Chef des immer noch aktiven Zahlungsdienstleisters Monneo Limited. Die Firma hieß früher E-Pay International Limited.
Der Payment-Experte Avi V. arbeitet ebenfalls von Prag aus. Von den Konten der Firmen Neo Charge und E-Pay flossen 2018 und 2019 auch hohe Millionenbeträge an den Drittpartner Payeasy. Avi V. lässt eine schriftliche Anfrage unbeantwortet. Zu einem Interview ist er ebenfalls nicht bereit. Als BR-Reporter ihm in seinen Geschäftsräumen in einem modernen Prager Business-Center einen Besuch abstatten wollen, fordert eine Assistentin sie auf, das Firmengelände umgehend zu verlassen.
Angebliche Drittpartner sind in Wirklichkeit Händler, die Fake-Seiten aufsetzen
Was steckt hinter den Überweisungen der Firmen von Avi V. an die Drittpartner? BR Recherche konnte Verträge zwischen den beteiligten Firmen einsehen. So hat Centurion Ende Dezember 2015 mit Neo Charge und einer weiteren Firma aus Istanbul namens Rep and Tile Bilisim einen Vertrag über die Abwicklung von Zahlungen abgeschlossen.
Überraschend ist: Centurion ist demnach keineswegs der Zahlungsabwickler, sondern einfacher "Merchant", also Händler. Weiter ist festgehalten, Centurion würde verschiedene Internetseiten betreiben. Zahlungen, die über diese Seiten laufen, wurden laut Vertrag von Neo Charge und einer Firma aus Istanbul namens Rep and Tile Bilisim abgewickelt. Die aufgeführten Internetseiten von Centurion heißen "megalikes.biz" oder "fan-boost.net". Mittlerweile sind sie abgeschaltet. Allerdings lassen sie sich im Web-Archiv recherchieren. Facebook-Likes, Youtube- und Instagram-Follower zum Preis ab 50 US-Dollar, so das angebliche Geschäftsmodell. Diese Seiten gibt es mit leichten Abwandlungen zifgach im Web-Archiv.
Hinweise auf "Transaction Laundering"
Für Zahlungsexperten ein deutliches Indiz für sogenanntes "Transcation-Laundering". Dabei täuschen die Betreiber mit Fake-Seiten Kreditkartennetzwerken wie Mastercard und Visa ein Geschäftsmodell vor. In Wirklichkeit wickeln sie darüber illegale Zahlungen ab – zum Beispiel für in vielen Staaten verbotenes Online-Gambling oder Pornographie. Der Shortseller Matthew Earl aus London hat solches "Transaction Laundering" bei Wirecard schon 2016 im sogenannten Zatarra-Report aufgedeckt. Ihn überraschen die Recherchen nicht. Die Masche sei im Prinzip immer gleich, sagt Earl im BR-Interview: "Als ich Wirecard und gewisse Internetseiten untersucht habe, ging es um Online-Glücksspiel und andere illegale Aktivitäten."
Auch Istanbuler Geschäftsmann schweigt
Und welche Rolle spielt die Firma Rep and Tile Bilisim aus Istanbul, die mit Neo Charge die Zahlungen auf den Fake-Webseiten von Centurion laut Vertrag abgewickelt hat? Die Spur führt zu einem türkischen Finanz-Experten - Sertac O., der den Vertrag mit Centurion und Neo Charge mitunterzeichnet hat. Sertac O. betreibt weitere Firmen, darunter den Zahlungsabwickler Payfessional Bilisim. Nach BR-Informationen kommen weitere Zahlungen aus Prag für Centurion und Payeasy ursprünglich von den Istanbuler Firmen des Sertac O. Dieser schweigt zu den Hintergründen und lässt eine detaillierte Anfrage unbeantwortet.
Geldwäsche-Vorwürfe gegen Bank in Montenegro mit Verbindungen zu Wirecard-Drittpartnern
Bemerkenswert an den Überweisungen, die Centurion und Payeasy erhalten, ist zudem, dass hohe Millionen-Summen von neun Firmen kommen, die ihren Sitz in Podgorica haben, der Hauptstadt Montenegros. Das Geld stammt von ihren Konten bei der Atlas-Bank Podgorica. Das Institut soll in den vergangenen Jahren im großen Stil Geldwäsche betrieben haben. In der kommenden Woche wird ein Gericht in Podgorica entscheiden, ob dem ehemaligen Eigentümer der Bank der Prozess gemacht wird. Dabei geht es um den Verdacht der Geldwäsche mit der Beteiligung von über hundert Firmen – darunter auch einige der neun Firmen, die an die Wirecard-Drittpartner Geld überwiesen haben. In Montenegro sind die Geldwäsche-Vorwürfe als „E-Commerce-Fall“ bekannt geworden.
Bei den neun Podgorica-Firmen fällt zudem auf, dass diese als Eigentümer jeweils gleichnamige Firmen aus der Region um die nordenglische Stadt Consett haben. Auch Direktoren sind bei den Firmen in Podgorica und Consett jeweils identisch. Die Stadt im strukturschwachen Nordwesten Englands lässt bei Wirecard-Kennern alle Alarmglocken läuten. Dort waren hunderte Briefkastenfirmen registriert, die ihren Sitz oft in unscheinbaren Reihenhäusern hatten. Über Jahre liefen hier mutmaßlich schmutzige Geschäfte, vor allem in den Bereichen Online-Glücksspiel und Pornographie. Bekannt ist das schon seit 2016 durch den Zatarra-Bericht des Finanzexperten Matthew Earl. Seiner Ansicht nach geht es bei vielen Firmen aus Consett "ausschließlich um Geldwäsche, in der einen oder anderen Form".
Simon Peter D. und Jennifer W. – diese Namen tauchen unter anderen in den jeweiligen Handelsregistern sowohl bei den Consett- als auch bei den Podgorica-Firmen auf. Simon Peter D. gibt sich am Telefon unwissend. Auf detaillierte Fragen antwortet er schließlich per SMS: "Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Wir hatten bis zu Ihrer Anfrage keine Ahnung von der Existenz dieser Firmen in Podgorica." Darüber hinaus äußert er sich nicht.
Viele Überweisungen in Steueroasen und Geldwäsche-Paradiese
Auch bei zahlreichen weiteren Firmen aus dem Überweisungs-Datensatz legen die Recherchen den Verdacht der Geldwäsche nahe. Im April 2017 fällt dies sogar bei der Wirecard-Bank auf. Deren Compliance-Beauftragter schickt daraufhin eine Anzeige an das damals noch zuständige Bundeskriminalamt. Darin heißt es unter anderem, die Höhe der eingehenden Zahlungen seien nicht nachvollziehbar, "da die Unternehmen nachweislich von einer Wohnadresse aus geführt werden und erst kürzlich gegründet worden sind". Konsequenzen? Offenbar keine. Mehrere der genannten Firmen tauchen auch 2018 mit Einzahlungen auf, darunter eine Firma namens Minova Services Ltd. aus Consett, jetzt in Gestalt einer Minova Services DOO mit Sitz in Podgorica.
War Wirecard am Ende also eine groß angelegte Geldwasch-Anlage? Der Schweizer IT-Spezialist Eurospider entwickelt Software, mit der Firmen die Einhaltung von Geldwäsche-Vorschriften prüfen lassen können. Durch den Abgleich mit nationalen und internationalen Datenbanken findet Eurospider zum Beispiel heraus, ob Unternehmen möglicherweise mit Partnern Geschäfte machen, die schon wegen des Verdachts der Geldwäsche oder wegen anderer mutmaßlich krimineller Straftaten aufgefallen sind.
Für BR Recherche hat Eurospider die 500.000 Überweisungen, die 2018 über Konten der Wirecard-Bank gelaufen sind, systematisch nach entsprechenden Auffälligkeiten analysiert. Das Ergebnis: Während die Trefferquote bei vergleichbaren Geldinstituten im unteren einstelligen Prozentbereich liegt, hat Eurospider bei den Wirecard-Transaktionen auffällige Treffer im zweistelligen Prozentbereich festgestellt. Nicht nur bei der Bank hätten solche Risiken auffallen müssen: "Diese Arbeit muss übrigens auch von den Prüfgesellschaften geprüft werden. Das gehört auch dazu, dass alles in Ordnung ist", so Peter Schäuble von Eurospider.
Erstaunt hat Eurospider auch die regionale Verteilung der Überweisungen. So ist ein wesentlicher Teil des Geldes von Konten in Deutschland oder Großbritannien in Länder geflossen, die als anfällig für Korruption und Geldwäsche gelten. Auch gab es zu vielen Firmen kaum Informationen, so Peter Schäuble: "Bei diesen hohen Beträgen kann man schon erwarten, irgendein einleuchtendes, nachvollziehbares Geschäftsmodell zu finden. Das hat uns wirklich gefehlt bei unseren Untersuchungen."
Anklage gegen Ex-Wirecard-Chef Braun zugelassen
Am Mittwoch teilte das Oberlandesgericht München mit, dass das Landgericht München I die Anklage der Münchner Staatsanwaltschaft gegen Braun und zwei weitere frühere Wirecard-Manager unverändert zugelassen hat. Der Strafprozess dürfte also bald beginnen.
In einem solchen Prozess wird die Frage, ob und in welchem Umfang es das Drittpartner-Geschäft gab, zentral sein. Schließlich befindet sich hier das Zentrum eines Jahrhundert-Finanzskandals.
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