Lange galt ADHS als eine neurobiologische Störung, die ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen auftritt. Wissenschaftlich belegt ist aber mittlerweile, dass ADHS und ADS mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter nicht immer und automatisch verschwinden: Immerhin rund ein Drittel aller betroffenen Kinder spürt auch später noch Symptome, auch wenn oft nicht mehr alle Kriterien für eine ADHS-Diagnose erfüllt werden.
ADHS-Symptome bei Kindern und Erwachsenen nicht gleich
Auch äußert sich die Störung, die vor allem auf einem Ungleichgewicht an Botenstoffen im Gehirn beruht, bei Älteren oft anders und weniger eindeutig als bei Kindern. Wo ein Zehnjähriger einem plötzlichen Wutanfall wegen einer Nichtigkeit vielleicht noch sofort freien Lauf lässt, wird ein Erwachsener versuchen, den Impuls zu unterdrücken, um den Ärger später an anderer Stelle und eher verdeckt rauszulassen.
Eine unentdeckte ADHS im Erwachsenenalter erhöhe außerdem das Risiko für andere psychische Erkrankungen, wie Suchtverhalten, Depressionen, Zwangsverhalten oder Angststörungen, erklärt Professor Oliver Pogarell, stellvertretender Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU in München. ADHS steht außerdem im Verdacht, Adipositas zu begünstigen. Bei einer guten Diagnostik gehe es auch um den Ausschluss anderer Erkrankungen, wie zum Beispiel einer Schilddrüsenfunktionsstörung, die sich ähnlich äußern kann, genauso wie Epilepsie.
"Immer und immer wieder in Brennnesseln fassen"
Immerhin 4,7 Prozent aller Erwachsenen sind Schätzungen zufolge von ADHS betroffen. Eine von ihnen ist die Heilpädagogin Adele Cordes, die ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter bekommen hat, als nämlich einer ihrer Söhne auf ADHS getestet wurde. Bei ihr selbst waren rückblickend auch schon in frühen Jahren eindeutige Symptome erkennbar: Sie galt immer als das "karierte Kind", das so impulsiv und lebendig war, aber auch oft bockig und sehr zerstreut. Ständig gingen in ihren Händen Dinge kaputt.
Später dann, als Erwachsene, wuchs die Ratlosigkeit darüber, warum es ihr so schwerfiel, Termine einzuhalten, überhaupt ihren Alltag zu organisieren, oder sich nach Auseinandersetzungen wieder zu beruhigen. Es sei das starke Gefühl, sich auf sich selbst nicht verlassen zu können, sagt sie. Der Unterschied zwischen ADHSlern und anderen Menschen, die auch mal unkonzentriert, emotional labil oder impulsiv sind? Da findet Adele Cordes ein eindringliches Bild: "Das ist so wie immer und immer wieder in die Brennnesseln zu langen. Jeder fasst einmal rein, aber nur besondere Menschen tun es immer und immer wieder."
Alltag in Beruf und Beziehung erschwert
Schwierigkeiten ergäben sich nicht nur am Arbeitsplatz, sondern oft auch in privaten Beziehungen: Menschen wie sich selbst beschreibt sie als "Mimose mit der Holzkeule" – die deutlich austeilen könnten, selbst aber sehr leicht gekränkt seien. Oft werden ADHS-Betroffene deshalb von dauerhaften Scham- und Schuldgefühlen geplagt. Ohne Erklärung für das eigene Verhalten kann der Selbstwert nach und nach immer weiter sinken.
Deshalb ermutigt sie Familien mit einem ADHS-Kind dazu, auch die anderen Familienmitglieder testen zu lassen. Denn ADHS könne vererbt werden und damit sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch ein Elternteil betroffen sei. Die Heilpädagogin betont, wie wichtig es sei, gut über sich selbst Bescheid zu wissen. Eine entsprechende Diagnose kann eine große Erleichterung sein.
Medikamente und Gesprächstherapie möglich
Auch die psychiatrische Ärztin Jana-Maria Winter ermutigt dazu, bei einem Verdacht abklären zu lassen, ob eine ADHS vorliegt. Je nach Leidensdruck könnten gut verträgliche Medikamente helfen, in Kombination mit einer Gesprächstherapie. Außerdem rät die Ärztin zu ganz einfachen Dingen wie viel Bewegung im Freien und dafür aber Zeiten am Rechner und Handy streng zu begrenzen. Das helfe, den Dopamin-Haushalt ins Gleichgewicht zu bringen.
Der zu schnelle Abbau von Dopamin im sogenannten synaptischen Spalt zwischen zwei Nervenzellen ist die Hauptursache bei der neurologischen Störung. Gleichzeitig sind bestimmte Hirnareale weniger aktiv als bei Gesunden.
Nicht nur Nach-, sondern auch Vorteile
Gleichzeitig empfinden viele Betroffene ihre Eigenheiten nicht nur als Belastung: Kreativ, energiegeladen und empathisch – das sind die gängigsten Selbstzuschreibungen. Adele Cordes bezeichnet sich selbst außerdem als einen sehr genussfähigen Menschen.
Ihr ist noch wichtig zu betonen, dass eine diagnostizierte ADHS niemanden aus der Verantwortung entlasse für das eigene Verhalten: "Die Störung ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung," sagt sie, und: "Es ist meine Aufgabe, Lösungen zu finden, wie ich mich mit ADHS im Alltag gut einrichten kann und mir dafür auch Hilfe zu holen, wenn nötig."
Dieser Artikel ist erstmals am 24. April 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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