Zwölf Kandidaten standen für die Wissenschaftler der "Anthropocene Working Group" (AWG) zur Wahl, darunter schillernde wie der Karlsplatz in Wien - und die Antarktis.
Die Vorschläge konnten unterschiedlicher kaum sein: Der Karlsplatz, in dessen Untergrund sich die Menschheit mit Zivilisationszeugnissen wie Trümmern aus dem Zweiten Weltkrieg ebenso verewigt hat wie mit Metall, Beton und Plastik; die Antarktis mit ihrer unberührten Natur, die bei näherer Betrachtung gar nicht so unberührt ist: In den Eismassen ist, wie in den Jahresringen eines Baumes, ein Archiv unserer Atmosphäre enthalten. Was die Menschheit in die Erdatmosphäre und in die Gewässer entlässt, manifestiert sich dort im ewigen Eis.
Natürliches Archiv am Seegrund
Auch der Crawford Lake in Kanada nahe der US-amerikanischen Grenze ist so ein natürliches Archiv. Der See hat eine seltene Eigenschaft: Seine Wasserschichten durchmischen sich nicht, der Seegrund in 24 Metern Tiefe bleibt weitgehend ungestört. In den Sedimenten dort unten finden sich keine Trümmer eines Weltkriegs, es finden sich keine Plastiktüten, keine Kugelschreiber oder andere Zeugnisse der Menschheit, die Geologen in ein paar Millionen Jahren vielleicht ausgraben würden.
Aber die kalkreichen Schichten, die sich Jahr für Jahr dort ablagern, enthalten eben jene Spuren, die die Wissenschaftler als "Marker" für das Anthropozän definiert haben: Kohlendioxid, das seit der Industriellen Revolution mehr und mehr in unsere Atmosphäre gelangt; Stickstoff, der in Düngemitteln der industriellen Landwirtschaft auf der ganzen Welt verwendet wird und Plutonium-239, der Hauptmarker, der den Beginn des Anthropozäns definiert. Es ist der Fallout der ersten Atombombentests, mit denen sich der Mensch ab 1945 endgültig unauslöschbar in die Erdgeschichte eingeschrieben hat.
- Lesen Sie hier: "Von Menschen produzierte Masse übersteigt 2020 erstmals Biomasse"
Konservative Entscheidung für Anthropozän-Referenzort
Solche Spuren sind es, die Geologen auch bisher untersuchen, Ablagerungen, die mit der Zeit zu Stein werden. Verglichen mit dem Karlsplatz und seinen menschengemachten unterirdischen Artefakten wirkt die Entscheidung für Crawford Lake recht konservativ. "Da müssen viele Menschen davon überzeugt werden", sagt Helmuth Trischler, Forschungsdirektor am Deutschen Museum in München und Professor für Technikgeschichte. Das gehe am besten, wenn man sich möglichst nahe an den etablierten Kriterien dieser Wissenschaft bewege.
"Anthropos" hält Einzug in die Geologie
Seit 2009 befasst sich die AWG mit der Definition des Anthropozäns als geologisches Erdzeitalter, welches das seit mehr als 11.000 Jahren bestehende "Holozän" ablösen soll. Die Idee dahinter ist aber weitaus älter. Bereits 1873 sprach Antonio Stoppani, der Begründer der italienischen Geologie, von der "Anthropozoischen Ära". Damit war "anthropos", das altgriechische Wort für den Menschen, erstmals zu einem geologischen Begriff geworden.
"Stoppani hat gesagt, dass der Mensch ein geologischer Akteur ist", so Trischler, "dass der menschliche Einfluss auf die Erde in der geologischen Forschung berücksichtigt werden sollte." Die Frage war nur, ab wann der menschliche Einfluss derart groß wurde, dass Geologen von einem neuen Zeitalter sprechen müssen: Mit dem Erscheinen von "Homo", dem Urmenschen vor zweieinhalb Millionen Jahren? Mit der Sesshaftwerdung im Zuge der ersten Landwirtschaft 11.000 Jahre vor unserer Zeit? Mit der "Entdeckung" Amerikas und der Kolonisierung der Welt sowie ihren umfangreichen Auswirkungen auf Natur und Umwelt?
Die "Große Beschleunigung"
Der niederländische Meteorologe Paul Crutzen der für seine Erforschung des Ozons in der Atmosphäre den Nobelpreis bekam, prägte zu Beginn des neuen Jahrtausends gemeinsam mit seinem Kollegen Eugene Stoermer den Begriff des "Anthropozäns", und schlug gleich einen Beginn für das neue Zeitalter vor: die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert und die darauffolgende Industrielle Revolution.
Die AWG diskutierte die Vorschläge, einigte sich aber auf den kürzestmöglichen Zeitraum. Sie legte den Beginn des Anthropozäns auf die Mitte des 20. Jahrhunderts fest. Da nämlich verorten Wissenschaftler die "Große Beschleunigung", eine Zeit, in der sich die Welt durch menschliches Zutun mit nie da gewesener Geschwindigkeit verändert hat. Klimawandel, Atombomben, Weltkrieg und Globalisierung, all das hat Auswirkungen, die sich anders als in den Jahrhunderten zuvor jetzt weltweit manifestieren.
- Hintergrund: Anthropozän - Erde im neuen "Zeitalter des Menschen"
Kritik am "Anthropozän"
Einige Wissenschaftler sehen es jedoch kritisch, dass die Menschen nun ihr eigenes Erdzeitalter ausrufen und dessen Beginn gerade mal ein paar Jahrzehnte zurückliegen soll. Die Geologie als Wissenschaft schaut sonst wesentlich weiter in die Vergangenheit zurück. Als überheblich bezeichnen manche das, der Mensch nehme sich in der Milliarden Jahre dauernden Erdgeschichte zu wichtig. Andere wiederum wehren sich gegen die Pauschalisierung, dass alle Menschen gleichsam die Umwelt so stark beeinflussen und zerstören.
Trischler versteht die Kritik. Er selbst freut sich aber, dass der Begriff des Anthropozäns jetzt mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein kommt. "Mir liegt daran, dass es das Anthropozän als definierte geologische Zeiteinheit geben wird, weil es uns Möglichkeiten gibt, interdisziplinär zu arbeiten und zu denken," sagt Trischler und zählt die Wissenschaften auf, in deren Debatten der Begriff schon Einzug gehalten habe - von der Geologie über die Theologie bis zu den Kunsthistorikern.
Die endgültige Entscheidung darüber, ob Crawford Lake zur Referenz für das neue Zeitalter wird, soll im kommenden Jahr fallen. An dem kleinen See in Kanada bereiten sie sich aber jetzt schon darauf vor, dass künftig mehr neugierige "Anthropozän-Touristen" kommen könnten.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!