In den Neunzigern stand sie für "Punkt 12" auf RTL vor der Kamera, seit Kurzem nun für ihren eigenen YouTube-Channel: die Moderatorin Milena Preradovic. Dort zitiert sie in einem Video, das sich derzeit stark verbreitet, den Finanzwissenschaftler Stefan Homburg. Der behauptet: Die Ausgangsbeschränkungen hätten nicht geholfen, die Reproduktionszahl der Coronafälle in Deutschland zu senken – und auch generell "nichts gebracht". Auch andere Medien schreiben Ähnliches.
Die Graphen zur Reproduktionszahl, die hier für Verwirrung sorgten, stammen vom Robert Koch-Institut – ursprünglich veröffentlicht am 9. April und seitdem aktualisiert. Mit einer aufwändigen statistischen Methode versuchten die Wissenschaftler, genauer aufs Infektionsgeschehen zu schauen. Das Papier war kaum draußen, als bereits erste Medienberichte mutmaßten, man könne sehen, dass sich die Ausgangsbeschränkungen überhaupt nicht ausgewirkt hätten: Die Kurve falle schon davor stark ab, seit den Ausgangsbeschränkungen aber kaum weiter. Beim ersten Blick scheint das plausibel – aber so einfach ist es nicht.
Was ist überhaupt die Reproduktionszahl?
Reproduktionszahl – das Wort ist sperrig, die Bedeutung simpel, nämlich: wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Beträgt die Zahl 3, steckt er im Schnitt drei weitere an – die Krankheit breitet sich sehr schnell aus. Ist die Zahl 1, steckt jeder Infizierte im Schnitt einen an, die Zahl der Erkrankten bleibt konstant, man hat die Krankheit sozusagen im Griff. Und ist sie unter 1, stirbt sie allmählich aus – vorausgesetzt, es bleibt so.
Ab wann ist die Verbreitungszahl gesunken?
Blickt man auf die Kurve, so steigt sie Anfang März, am 11. erreicht sie ihren Gipfel bei einem Wert von fast 3,5. Dann stürzt sie gleichmäßig ab, ungefähr zwölf Tage lang, bis auf 1,2. "Man kann sehen, dass die Maßnahmen im Großen und Ganzen gewirkt haben, die Reproduktionszahlen hat sich gesenkt", sagt der Londoner Epidemiologe Sebastian Funk, der selbst solche Modellierungen macht.
Man könnte nun interpretieren: Die Trendwende setzte am 11. März ein. In den Tagen vorher war das Thema immer präsenter geworden: tägliche Pressekonferenzen, Hinweise auf Hygieneregeln, das Verbot von Großveranstaltungen. Zwei Tage später schon fällt die Kurve steil ab. Am 16. März, als die Schulen nach dem Wochenende nicht mehr aufmachten, liegt die Reproduktionszahl bei unter 2 – und sinkt weiter. Bis sie ausgerechnet am 23. März, als die Ausgangsbeschränkungen gültig werden, in die Waagrechte schwenkt.
Was änderte sich durch die Ausgangsbeschränkungen an der Zahl?
Manche Medien schreiben nun, es sei klar erkennbar: Die Schulschließungen brachten viel, die Ausgangsbeschränkungen nichts. Denn sonst würde die Zahl ja weiter sinken. Fachleute widersprechen allerdings solchen Schlussfolgerungen. Die Auswirkungen der Maßnahmen setzten über einen längeren Zeitraum ein, so Funk. Es sei sehr schwierig, es im Einzelnen herauszuarbeiten, welche Maßnahmen genau welchen Effekt gehabt hätten, sagt auch der Epidemiologe Stephan Glöckner vom Helmholtz-Institut. Aber die Kombination der Interventionen habe die Zahl nach unten gedrückt.
Warum flacht die Kurve nach den Ausgangsbeschränkungen ab?
Trotzdem bleibt die Frage: Warum schwenkt die Kurve ausgerechnet zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen in die Waagrechte? Zunächst ist wichtig, zu sagen: Schon bevor die strengen Maßnahmen einsetzten, änderte sich das Verhalten der Bevölkerung. Deswegen war kein klarer Schnitt in den Zahlen zu erwarten.
Ein weiterer Einfluss könnte sein, dass erst danach die Infektionen in den Altenheimen rapide anstiegen. Matthias an der Heiden, Statistiker beim RKI und Hauptautor des Papiers, spricht von einer "anderen Dynamik" in dieser Altersgruppe. Die Maßnahmen würden hier nicht wirken, und: "Das Maximum ist hier erst viel später erreicht."
Hinzu kommt eine ganze Reihe verschiedener Verzögerungseffekte, die zu genaue Festlegungen auf ein Datum aus Sicht der Fachleute unsinnig werden lassen. Die Reproduktionszahl hinkt sozusagen den eigentlichen Fallzahlen hinterher. Einen sehr starken solchen Effekt habe man zum Beispiel in Wuhan gesehen, sagt Matthias an der Heiden. Nach dem Shutdown am 23. Januar gingen die Zahlen dort nicht hoch – aber auch nicht runter. Erst ab dem 5. Februar senkte sich die Kurve ab.
Das heißt: Die Untersuchung des RKI, die nun oft zitiert wurde, konnte viele mögliche Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen noch gar nicht abbilden – sie kam zu früh.
Gibt es Unterschiede zwischen Bayern und dem Rest von Deutschland?
Die bayerischen Zahlen gehen auf das Statistische Beratungslabor der LMU München zurück. Betrachtet man diese Kurve für Bayern genauer, fällt auf: Sie sinkt schon sehr stark, bevor auch nur eine einzige Maßnahme verhängt wurde. Zu den möglichen Gründen sagt Helmut Küchenhoff vom Institut für Statistik, es gebe sehr viele Größen, die einen Einfluss auf die Kurve haben. "Es sind viele Maßnahmen passiert und die Leute haben auch freiwillig ihr Verhalten verändert." Man könne klar von einem Rückgang sprechen – aber welche einzelne Maßnahme wofür verantwortlich war, sei auch hier schwierig zu sagen.
Was hat sich seitdem verändert?
Mittlerweile liegt die Reproduktionszahl in Deutschland bei 0,7 (Stand 17. April 2020), in Bayern liegt sie bei 0,78 (Stand ebenso 17. April). Aber auch dieser Stand vom 17. April hat eine deutliche Verzögerung: In Bayern bezieht er sich auf die Daten vom 4. April. Das bedeutet: Ein Mensch, der sich am 4. April neu infiziert hat, hat statistisch gesehen 0,78 weitere Personen angesteckt. Grob vereinfacht gesagt, war die Zahl aufgrund der seriösen Berechnung zum Veröffentlichungszeitpunkt der Berechnungen bereits 13 Tage alt.
Höchstwahrscheinlich ist sie jetzt schon deutlich niedriger. Das legen auch die weiter sinkenden Zahlen der Neuinfektionen nahe. Als der Lockdown verhängt wurde, meldeten die Behörden im Schnitt etwa 5.000 neue bestätigte Infektionsfälle pro Tag deutschlandweit. Mittlerweile liegen sie deutlich unter 2.000 täglich. Automatisch wird die Reproduktionszahl also ebenfalls gewaltig sinken.
Dass die Kurve nun während der Ausgangsbeschränkungen dennoch weiterhin langsamer abflacht als in den Wochen zuvor, in denen die Schulen und Gaststätten geschlossen und Veranstaltungen verboten wurden, lässt sich statistisch erklären: Je besser ein Ergebnis wird, desto schwieriger wird es, es noch weiter zu verbessern. Heißt: Am Anfang lassen sich schneller große Unterschiede und beeindruckende Ergebnisse erzielen. Der harte Kampf, die Kurve weiter sinken und nicht wieder steigen zu lassen, beginnt erst danach. Auch der Statistiker Küchenhoff bestätigt, dass dieser sogenannte "Grenznutzen" eine Rolle spielt.
Welche Zahlen zeigen die Entwicklung am besten?
Aufschlussreicher als die Reproduktionszahl ist vermutlich nach wie vor die Kurve der gemeldeten Neuinfektionen. Täglich aktualisiert zum Beispiel beim Robert-Koch-Institut (für Bayern beim Gesundheitsministerium). Diese Kurve verläuft zwar nicht linear, sondern quasi gezackt - was einfach daran liegt, dass am Wochenende weniger Tests gemacht werden. Aber man kann trotzdem sehr gut die längerfristige Entwicklung erkennen: Seit Mitte März stiegen die gemeldeten Neuinfektionen im mittelfristigen Trend nicht mehr; seit Anfang April gingen sie, wie bereits genannt, massiv zurück.
Auch hier gelten natürlich zwei Dinge: Man kann die Daten der Kurve nicht einfach einzelnen Maßnahmen zuordnen, weil sich die Auswirkungen überlagern. Und zweitens hinkt die Kurve der Wirklichkeit immer hinterher. Von der Ansteckung bis zum Zeitpunkt, an dem ein Testergebnis eingepflegt wird, vergehen etliche Tage.
Fazit
Die Schlüsse, die manche Medien und auch der Experte in Milena Preradovics Video zogen, sind grob vereinfacht bis unzulässig. Das zeigt sich aus den Aussagen aller vom BR befragter Fachleute, die teilweise für die Berechnungen der Zahlen mitverantwortlich waren. Demnach ist schwierig, aus der Kurve eindeutig abzuleiten, welche Maßnahme oder Verhaltensänderung für den Rückgang der Verbreitungszahl verantwortlich ist. Außerdem gibt es bei der Berechnung der Zahlen eine große zeitliche Verzögerung. Insgesamt kann man aber sehen: Die Maßnahmen und die Verhaltensänderungen haben etwas bewirkt, und zwar nicht nur bis zum Beginn der Ausgangsbeschränkungen. Denn die Reproduktionszahl ist auch danach weiter gesunken. Ende März war sie etwa bei 1, nun ist sie bei 0,7.