Schwere Verletzungen der Wirbelsäule können die Kommunikation zwischen Rückenmark und Gehirn unterbrechen und bleibende Lähmungen verursachen. Einem Ärzte- und Forscherteam aus Lausanne in der Schweiz ist es nun erstmals gelungen, mithilfe einer implantierten Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle (Brain-Spine-Interface, BSI) bei einem Patienten diese Kommunikation wiederherzustellen, und zwar ohne Verzögerungen bei der Übertragung.
Der 38-Jährige litt nach einem Unfall zehn Jahre an einer Lähmung der Arme und Beine. Laut der Studie, die gerade in der Fachzeitschrift Nature erschienen ist, gewann er ein "natürliches" Gefühl der Kontrolle über die Bewegungen seiner Beine zurück. Mit Gehhilfen kann er nun zwar sehr eingeschränkt, aber eigenständig laufen und Treppen steigen. Kleinere neurologische Verbesserungen, wie bei Sinneswahrnehmungen und motorischen Fähigkeiten, hielten laut der Forscher auch dann noch an, wenn das BSI abgeschaltet wurde.
Kabellose Kommunikation zwischen Gehirn und Rückenmark
Die digitale Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark besteht aus zwei vollständig implantierten Systemen, die kabellos miteinander kommunizieren. Der eine Teil sind zwei Elektrokortikographie-Implantate in der Schädeldecke des Patienten. Diese leiten mit je 64 Elektroden Hirnstromwellen von der Oberfläche des Gehirns ab und geben sie an einen tragbaren Rechner weiter.
Auf Grundlage dieser Daten errechnet der Computer die gewollte Bewegung und übersetzt sie in Stimulierungsbefehle. Diese gibt er dann in Echtzeit an das zweite implantierte System im Rücken weiter. Dort befinden sich ein elektrischer Pulsgeber und ein Elektrodenarray, das neuronale Signale abgeben kann. Entsprechend der Befehle stimulieren 16 kleine Elektroden die Motor-Neuronen im Rückenmark und aktivieren gezielt die Muskeln. Laut der Forschenden funktionierte die digitale Brücke während der Beobachtungszeit von einem Jahr zuverlässig, auch beim Patienten zu Hause.
Probleme bei der Übertragbarkeit auf andere Patienten
Angesichts dieser Erfolge sprechen die Forscher aus Lausanne von einer "neuen Ära' in der Behandlung von motorischen Defiziten aufgrund neurologischer Erkrankungen". Das hält Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte des Klinikums Bayreuth, für übertrieben. Er sieht jedoch Fortschritte in mehreren Bereichen und betont: "Der Schlüsselaspekt ist meiner Auffassung nach, dass das Ganze in Echtzeit funktioniert. Bisher mussten Probanden intensiv an irgendetwas denken, beispielsweise eine bestimmte Farbe, und sich darauf konzentrieren. Dieses Signal in Form eines herausragenden Gedankenereignisses hat der Computer erkannt und daraufhin ein Bewegungsprogramm gestartet."
Bei der nun präsentierten digitalen Brücke sei das anders: Die Vorstellung der Bewegung wird direkt an der Großhirnrinde erkannt und ohne Verzögerung weitergegeben. Das sind nach Einschätzung Abels große Fortschritte für diese Technologie, aber: "Inwieweit sie auf andere Patienten, zum Beispiel mit kompletter Lähmung, übertragen werden können, bleibt abzuwarten. Der hier behandelte Patient ist inkomplett, das heißt, er verfügt zumindest über vorbestehende motorische Fähigkeiten, die genutzt werden können."
Zudem kann es auch sein, dass die Zuverlässigkeit eines BSI mit der Zeit nachlässt: "Wir haben beispielsweise schon bei vielen Brain-Computer-Interfaces gesehen, dass sich Narben um die Elektroden bilden, die die Funktionsweise beeinträchtigen können", erläutert Abel.
Nur ein Patient in der Studie statt zehn
Auch Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie des Universitätsklinikums Heidelberg, bezeichnet diese Kombination von implantiertem BSI und Stimulator als in dieser Form neuartig. Allerdings sieht auch er Probleme bei der Übertragbarkeit auf andere Patienten.
So seien in der aktuellen Studie die Effekte des Brain-Spine-Interfaces an lediglich einem einzigen Patienten gezeigt worden, obwohl die Studie für zehn Patienten konzipiert gewesen sei. Warum nur ein einziger Patient in der Studie beschrieben wurde, gehe aus der Studie nicht hervor. Zudem sei der beschriebene Patient außergewöhnlich: Orthopädische Eingriffe wie eine Sprunggelenkversteifung, denen er sich unterzogen hat, haben seine Geh- und Stehfunktionen verbessert, sagt Weidner: "Zusammengefasst lässt sich also überhaupt keine verlässliche Aussage treffen, ob und inwieweit die berichteten Effekte hinsichtlich Gehfunktion auf anderen Patienten mit Querschnittlähmung übertragbar sind oder gar Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen." Den Beginn einer "neuen Ära" kann er in der präsentierten Kombination aus BSI und Muskel-Stimulator nicht erkennen: "Wie so häufig in der Vergangenheit, erachte ich dieses Statement als zu gewagt mit der Gefahr, dass falsche Hoffnungen bei Betroffenen geweckt werden."
Keine "neue Ära", aber "iPhone-Moment"
Ein Fortschritt in der Behandlung von Lähmungen des Bewegungsapparats ist dieses System dennoch, meint Abel "Es ist eine wirklich tolle Kombination von verschiedenen Techniken, die zumindest nach dem Bericht eine neue 'Qualität' der funktionellen Bewegungskontrolle an den Beinen ermöglicht. Es ist schon so ein bisschen ein iPhone-Moment - als das auf den Markt kam, habe ich zuerst gedacht: 'Wozu brauche ich GPS beim Telefonieren in einer Großstadt?'. Jetzt wissen wir es."
Auch Alireza Gharabaghi, Direktor des Instituts für Neuromodulation und Neurotechnologie der Uniklinik Tübingen ist der Ansicht, dass die digitale Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark ein Meilenstein in der Behandlung von querschnittsgelähmten Menschen ist, schränkt aber ein: "Es wird noch Jahre dauern, bis wir in der Lage sind zu sagen: Ja, jetzt haben wir eine Lösung, um für Patienten mit ganz unterschiedlichen Schädigungen, mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungsmustern, mit unvollständigen, aber auch vollständigen Lähmungen, dort eine Therapie anbieten können. Das ist noch ein Weg, der vor uns steht. Aber jeder Weg beginnt natürlich mit dem ersten Schritt - und das ist ein ganz großer erster wichtiger Schritt, der hier unternommen worden ist."
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