Nach rund drei Jahren neigt sich die Covid-19-Pandemie ihrem Ende zu. Die meisten Menschen in Deutschland sind geimpft und/oder haben eine Infektion mit dem Coronavirus überstanden. Doch einige leiden danach weiter an unterschiedlichen Symptomen, zusammengefasst unter dem Namen Long Covid. Es wurde auch vermutet, eine Corona-Infektion würde das Immunsystem schwächen, möglicherweise sogar ein Leben lang. So generell könne man das aber nicht sagen, sagt die Immunologin und Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin Prof. Martina Prelog vom Uniklinikum Würzburg. Sie erklärt, was bei einem viralen Infekt passiert: Zunächst reagiert das angeborene Immunsystem, das den Eindringling ganz unspezifisch und breit bekämpft, unter anderem mit Entzündungsreaktionen. Als nächstes wird das erworbene Immunsystem aktiv. Es reagiert spezialisiert auf einzelne Erreger und merkt sich diese für die Zukunft. Beim nächsten Kontakt ist es dann vorbereitet und kann schnell und effektiv reagieren.
Während der Infektion arbeitet das Immunsystem auf Hochtouren. Es bildet Antikörper und aktiviert Abwehrzellen, zum Beispiel T-Zellen. Bei herkömmlichen Erkältungserregern dauert es etwa ein bis zwei Wochen, bis die Krankheitserreger vernichtet und aus dem Körper ausgeschieden sind. Dann beruhigt sich das Immunsystem normalerweise wieder.
- Zum Artikel: Long Covid und Post Covid: Fragen und Antworten
Video: Das Immunsystem erklärt
Infektion schwächt Immunsystem – vorübergehend!
Während und nach einer Infektion kann die Reaktionsfähigkeit des Immunsystems allerdings tatsächlich vorübergehend schwächer sein. In dieser Phase haben es andere Krankheitserreger leichter und zur ersten Infektion können weitere Infektionen hinzukommen. Auf eine durch Viren ausgelöste Atemwegserkrankung folgt dann zum Beispiel eine bakterielle Lungenentzündung. Eine solche zusätzliche Infektion wird auch Superinfektion genannt. "Das ist ein Aspekt, den man vielleicht als eine vorübergehende Immunschwäche bezeichnen könnte", erläutert die Immunologin Martina Prelog.
Das Immunsystem hat außerdem gelernt, auf den Krankheitserreger zu reagieren, hier auf das Coronavirus SARS-CoV-2. Dieser Lerneffekt ist während und nach der Infektion im Blut zu erkennen: Dort sind sehr viele spezifische Gedächtniszellen und sogenannte Effektorzellen zu finden. Der Anteil dieser Untergruppe der Abwehrzellen ist also relativ hoch. Relativ geringer ist hingegen der Anteil an jungen, unreifen T-Abwehrzellen, die sich an neue Erreger anpassen können.
"Das könnte man als Merkmal einer vorzeitigen Immunalterung fehlinterpretieren", erklärt Martina Prelog. "Aber das ist eigentlich keine richtige Alterung des Immunsystems, sondern eine relative Verschiebung und ein Differenzierungszeichen." Denn nach dem Infekt sind zwar sehr viele Gedächtniszellen und Effektorzellen im Blut. Diese ziehen sich mit der Zeit aber zurück, unter anderem in die Lymphknoten und das Knochenmark. Zugleich kommen unreife, naive Abwehrzellen nach und das Verhältnis der Abwehrwellen pendelt sich wieder auf Normalmaß ein. In dieser Phase nach der Infektion reagiert das Immunsystem also etwas anders, zum Beispiel durch viele regulatorische Abwehrzellen, die die Entzündungsreaktion durch den Infekt wieder nach unten bremsen, aber: "Was man als Immunschwäche interpretieren könnte oder als Alterung des Immunsystems, ist, dass es Eigenschaften eines gealterten Immunsystems aufweist, aber nicht, dass es tatsächlich gealtert ist." sagt Prelog.
Geschwächtes Immunsystem weckt schlummernde Krankheiten
Auch Krankheitserreger, die im Körper schlummern, können in dieser Phase wieder aktiv werden. Zum Beispiel das Varizella-Zoster-Virus. Die sind bei fast jedem, der einmal die Windpocken hatte, in den Nervenzellnestern des Rückenmarks. Die vorübergehende Immunschwäche kann diese Krankheitserreger reaktivieren, der dann die Gürtelrose auslöst. Während der Pandemie richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt darauf, welche Rolle Coronavirus-Infektionen als Auslöser spielen und ob deswegen die Zahlen bei Gürtelrose und verwandten Erkrankungen steigen.
Eine dauerhafte Schwächung des Immunsystems löst eine Corona-Infektion jedoch im Normalfall nicht aus. Üblicherweise halten die vorübergehenden Veränderungen des Immunsystems nach einem Infekt ein paar Wochen oder auch einmal für wenige Monate an, dann sollten sie aber auch wieder verschwinden, sagt Prelog. Nach derzeitigem Stand der Forschung sei nicht davon auszugehen, dass diese Effekte langanhaltend sind. Im Normalfall sollten sie früher oder später verschwinden, so wie bei anderen viralen Infekten auch.
Auch erneute Infektionen führen normalerweise nicht zu einer Schwächung des Immunsystems. Das Immunsystem lernt den Erreger durch mehrere Kontakte sogar besser kennen und kann ihn anschließend besser abwehren. Das ist jedoch keine Empfehlung, sich möglichst oft mit dem Coronavirus anzustecken. Covid-19 verläuft zwar inzwischen meist mild, schwere Krankheitsverläufe sind aber weiterhin möglich, gerade bei Menschen mit Risikofaktoren, von denen die Betroffenen manchmal selbst nicht wissen.
Video: Immunsystem - So funktioniert die körpereigene Abwehr
Auch Hundertjährige können neue Krankheiten abwehren
Eine große Rolle bei der Funktion des Immunsystems spielt das Alter. Das Immunsystem eines neugeborenen Kindes verfügt über das gesamte Repertoire zur Abwehr von Krankheitserregern, denen es im Laufe seines Lebens begegnet. Mit der Zeit wird dieses Repertoire jedoch kleiner und die Fähigkeit, neue Krankheitserreger abzuwehren, sinkt. Das ließ sich auch während der Pandemie beobachten, als vor allem ältere Menschen schwere und/oder tödliche Verläufe von Covid-19 hatten. Auch die Fähigkeit des Immunsystems, zwischen "selbst" und "fremd" beziehungsweise "krank" zu unterscheiden, geht zurück. Deshalb nehmen im Alter Autoimmun- und Krebserkrankungen zu.
Bei älteren Menschen arbeiten die Fresszellen nicht mehr so gut, die Antikörper binden sich weniger gut an Eindringlinge und infizierte Zellen werden nicht mehr so schnell abgetötet wie in jungen Jahren. Auch die Zahl der naiven T-Zellen, die sich auf neue Krankheitserreger spezialisieren können, ist bei Älteren geringer. Kinder haben rund 60 Prozent naive T-Zellen, bei Erwachsenen sinkt der Anteil auf circa 40 Prozent. "Auch ein Hundertjähriger hat die Möglichkeit, auf völlig neue Infektionserreger zu reagieren", betont die Immunologin Martina Prelog, "weil immer noch unreife, lernfähige T-Zellen da sind."
Covid-19 wird ein Atemwegsinfekt unter vielen
Aktuell sieht es so aus, dass das Coronavirus auf dem Weg ist, zu einem Erreger von Atemwegsinfekten zu werden wie andere auch, wie zum Beispiel Influenza. "Bei der Dynamik, die wir jetzt sehen, wird sich SARS-CoV-2 einreihen bei den Viren, denen wir immer wieder begegnen. Neue Virusvarianten oder sogenannte Immunfluchtvarianten können uns aber immer noch vor Herausforderungen stellen", sagt die Immunologin Martina Prelog. Man wird aber erst sehen, ob es wie bei den Influenza-Viren eine Häufung zu einer bestimmten Jahreszeit gibt oder ob uns der Erreger das ganze Jahr begleitet. Inzwischen herrscht in der Bevölkerung eine gewisse Grundimmunität durch Impfungen und/oder überstandene Infektionen. Zudem ruft die Omikron-Variante häufiger milde Krankheitsverläufe hervor.
Menschen mit Risikofaktoren sollten sich allerdings weiterhin regelmäßig gegen Covid-19 impfen lassen. Bei ihnen reagiert das Immunsystem weniger effizient auf die Impfung und die Wirkung lässt schneller nach. Deshalb ist bei ihnen immer wieder eine Erinnerung an den Erreger notwendig, um die Zahl der spezifischen Abwehrzellen und der neutralisierenden Antikörper auf einem ausreichend hohen Niveau zu halten. Für Menschen mit einem fitten Immunsystem wird SARS-CoV-2 aber voraussichtlich ein Erreger unter vielen werden. Vorausgesetzt, es tauchen keine neuen Varianten auf, die dem Immunsystem entkommen und wieder schwerere Krankheitsverläufe hervorrufen. Dann könnte es notwendig sein, auch immungesunde Menschen wieder regelmäßig gegen Covid-19 zu impfen.
Audio: Das Immunsystem - Wächter des Körpers
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