Jeder, der schon mal einen medizinischen Beipackzettel durchgelesen hat, kennt das Gefühl: In dem Augenblick, da klar ist, welche Folgen die Einnahme eines Medikaments mit sich bringen kann, breitet sich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend aus.
Ähnliches kann für die Auswirkung einer Impfung gelten. Die Information über mögliche Beschwerden nach dem Piks können negative Erwartungen bei einem Patienten wecken. Diese setzen möglicherweise einen psychologischen bzw. einen neurobiologischen Prozess in Gang, der häufig dazu führt, dass diese Beschwerden auch wirklich körperlich eintreten. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einem Nocebo-Effekt, eine Art umgekehrter Placebo-Effekt.
Nocebo-Effekt: Scheinpräparat mit Nebenwirkungen
Forscher des Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston (BIDMC) haben gerade in der Fachzeitschrift "Jama Network Open" das Ergebnis einer Meta-Analyse publiziert, die zeigt, dass etwa zwei Drittel der milden Nebenwirkungen nach einer Covid-19 Impfung wohl mit dem Nocebo-Effekt zusammenhängen. Ausgewertet wurden 12 Studien mit insgesamt 44.380 Teilnehmern. Die eine Hälfte der Probanden wurde mit einer der gängigen Corona-Impfstoffe geimpft, die andere Hälfte erhielt eine Spritze mit Kochsalzlösung. In welcher Gruppe sie sind, wurde den Teilnehmern nicht verraten.
Das Forschungsteam um Julia W. Haas vom BIDMC hat verglichen, wie oft die jeweiligen Gruppen Impfreaktionen meldeten. Nach der ersten Dosis klagten 35 Prozent der Schein-Präparat-Empfänger über Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Müdigkeit. Bei den tatsächlich geimpften Probanden waren es rund 46 Prozent. Aus dem Verhältnis beider Zahlen errechnet sich der Nocebo-Effekt.
"Die Zahlen entsprechen den Ergebnissen anderer Studien, die ebenfalls versuchen, Nocebo-Reaktionen im Kontext von Schein-Impfungen oder auch im Rahmen anderer medizinischer Behandlungen zu beziffern", erklärt Mit-Autorin Friederike Bender von der Philipps-Universität in Marburg. Das Ergebnis würde sie daher nicht überraschen.
Nocebo-Effekt lässt bei der zweiten Impfung nach
Nach der zweiten Impfung klagten allerdings deutlich mehr tatsächlich Geimpfte über Impfreaktionen (61 Prozent) als scheinbar Geimpfte (32 Prozent). Hier war der Nocebo-Effekt weniger ausgeprägt, was damit zusammenhängen mag, dass nach der zweiten Dosis statistisch häufiger Symptome vorkommen.
Nicht nur Erwartungen spielen eine Rolle
Auslöser des Nocebo-Effekts könnte die Aufklärung über mögliche Folgen vor der Impfung gehören. "Wenn wir auf ein bestimmtes Symptom warten", so Friederike Bender "lenken wir im Weiteren unsere Aufmerksamkeit darauf. Wir - oder genauer gesagt - unser Hirn sucht nach Hinweisreizen, die auf dieses Symptom hinweisen." Dadurch steige die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein solches Nocebo-Syndrom verstärkt wahrnehmen.
Doch neben Erwartungen spielen noch zahlreiche andere Faktoren bei der Entstehung von Nocebo-Effekten, erklärt Bender. Zum Beispiel die Atmosphäre, in der eine Behandlung stattfindet. Strahlt der Arzt oder die Ärztin Wärme, Freundlichkeit und Kompetenz aus, fühlen sich Patienten besser aufgehoben und vertrauen eher darauf, dass die Behandlung positiv verläuft. Förderlich für eine entspannte Haltung ist auch das Gefühl, als Patient mitentscheiden zu dürfen, im Sinne eines shared decision makings. "Wenn wir uns hier unsicher fühlen oder das Gefühl haben, nicht ausreichend mitentscheiden zu können oder eher skeptisch auf die anstehende Behandlung blicken, kann das den Einfluss von Nocebo-Effekten verstärken."
Wichtig dabei sei, dass es sich nicht per se um "eingebildete Symptome" handele, betont die Wissenschaftlerin. Stattdessen ginge es um Prozesse, denen wir alle mal unterliegen können.
Experten: Bessere Aufklärung über Nocebo-Effekt nötig
Rein rechtlich und ethisch gesehen sind Ärzte und Ärztinnen dazu verpflichtet, Patienten über mögliche Nebenwirkungen einer Behandlung zu informieren. Es gehe also nicht darum, mögliche Risiken zu verschleiern, um einen möglichen Nocebo-Effekt zu verringern, warnt Ted J. Kaptchuk, Leiter der Meta-Studie und Experte für Placebo Studies an der Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston. „Die Medizin baut auf Vertrauen“, erklärt Kaptchuk in einer Pressemitteilung. Dennoch wünscht sich seine Forschergruppe eine bessere Aufklärung darüber, wie der Nocebo-Effekt funktioniert. Weltweit gehört die Angst vor Nebenwirkungen zu den gängigsten Gründen, sich nicht impfen zu lassen. Eine bessere Aufklärung könnte dem entgegenwirken und vielen Menschen die Scheu davor nehmen.
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