Kann eine Zahl Karriere machen? Wenn ja, dann hat diese Zahl es geschafft: Die FAZ zitiert sie, in der Süddeutschen Zeitung ist sie zu lesen, sie findet sich in verschiedenen Varianten im Deutschlandfunk – und auch in BR24-Leserkommentaren:
Die BR24-Nutzerin schreibt von 35.000 Prozent, an vielen anderen Stellen ist die Rede von 39.390 Prozent, oder gerundet 39.400 Prozent. So viel sollen die Münchner Bodenpreise seit 1950 gestiegen sein. Selbst im Bundestag wird mit dieser Zahl inzwischen Politik gemacht: Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linken, zitiert sie während der Haushaltsdebatte um den Etat für 2020.
Doch sich auf eine solche Zahl festzulegen, ist problematisch. Denn es ist generell schwierig, Bodenpreise über Jahrzehnte hinweg zu vergleichen. Die eine, richtige Zahl gibt es nicht. Warum, erklärt der #Faktenfuchs.
Ins Spiel gebracht hat die 39.390 Prozent Hans-Jochen Vogel, ehemaliger Münchner Oberbürgermeister und ehemaliger Bundesbauminister: Im November 2019 veröffentlichte er das Buch "Mehr Gerechtigkeit!". Die hohe Prozentzahl ließ Vogel vom Münchner Gutachterausschuss ausrechnen – einem unabhängigen Gremium, das Bodenpreise in München bewertet.
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Der Wunsch nach einer einzigen Zahl ist nachvollziehbar
Eine konkrete Zahl würde das Problem der Bodenverteilung anschaulich machen, und damit eines der größten sozialen Probleme unserer Zeit – den Mangel an bezahlbarem Wohnraum – veranschaulichen. Und: Aus einer solchen Form lassen sich, wie Bartsch und andere es machen, politische Forderungen ableiten.
Doch so nachvollziehbar der Wunsch nach einer einzigen, aussagekräftigen Zahl auch sein mag: Viele Statistiker äußern Bedenken, wenn es darum geht, den prozentualen Zuwachs der Bodenpreise über lange Zeit hinweg zu berechnen.
Die 39.390 stimmen – Vogel legt aber eine andere Tabelle zugrunde
Vorab ein kleiner Exkurs zu den Details in dem Buch, das die Zahl aufbrachte: Die 39.390 Prozent stimmen im Grundsatz – der Gutachterausschuss der Stadt München, der die Zahl berechnete, erklärt auf Nachfrage, ein Anstieg "in der Größenordnung von rund 34.000 bis 39.400 Prozent" sei korrekt – allerdings für den Zeitraum von 1950 bis 2015, nicht bis 2017, wie die Tabelle in Vogels Buch suggeriert.
Wer allerdings selbst anhand der Zahlenreihe für München nachrechnet, die Vogel anführt, stellt fest: Daraus ergeben sich rechnerisch nicht 39.390 Prozent. Ein Quadratmeterpreis, der von (umgerechnet) drei Euro auf 1.876 Euro klettert – das ergäbe eine noch höhere Preissteigerung von 62.433 Prozent bis zum Jahr 2017. Legt man den Zeitraum zugrunde, auf den sich der Gutachterausschuss bezieht (1950 bis 2015), sind es immer noch 49.900 Prozent .
Vogel selbst erklärt auf Nachfrage zu der Zahl: "Hier ist in der Tat ein Irrtum unterlaufen." Wo genau der Fehler entstanden ist, lässt sich nicht mehr komplett nachvollziehen. Vogel sagt, er habe die Zahlen samt Ergebnis so erhalten und abgedruckt. Der Leiter der Münchner Gutachterausschusses, Albert Fittkau, erklärt auf Nachfrage, sein Gremium habe zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Zahlenreihen erstellt, eben, weil es keine absolut richtige Zahl gibt. Die Zahlenreihen gingen mehrfach hin und her; am Ende stand im Buch zwar das richtige Ergebnis – aber in Verbindung mit einer früheren Zahlenreihe.
Verschiedene Ergebnisse - Grundthese bleibt: Preise extrem gestiegen
Fittkau liefert BR24 schließlich die Berechnung nach, die er nach heutigem Stand für die zuverlässigste hält: Der Preis sei von 3,07 Euro pro Quadratmeter im Jahr 1950 auf 1.120 Euro pro Quadratmeter im Jahr 2015 gestiegen – das bedeutet eine Preissteigerung um 36.382 Prozent.
39.390 Prozent, 62.433 Prozent, 49.900 oder 36.382 Prozent – jede dieser Zahlen ist sehr hoch. Vogels Grundthese, dass die Bodenpreise in München seit Kriegsende extrem gestiegen sind, stellen also auch die anderen Zahlen nicht infrage. Was das Zahlen-Wirrnis stattdessen zeigt: Eine genaue Aussage darüber zu treffen, um wie viel Prozent die Münchner Bodenpreise gestiegen sind, ist kaum möglich. Die Zahlen können sehr variieren – je nachdem, wie man rechnet.
Wahl des Ausgangsjahres 1950 sorgt für deutlich höhere Prozentzahl
Die Schwierigkeiten fangen schon bei der Frage an, welchen Ausgangspunkt man für eine Statistik wählt. Denn zu Beginn der 1960er-Jahre geschah mit deutschen Bodenpreisen etwas durchaus Interessantes: Sie schossen in die Höhe. Der Grund: Die Nazis hatten die Grundstückspreise im Jahr 1936 fixiert, also eine Art Preisdeckel für Boden eingeführt. Die sogenannte "Preisstoppverordnung" sorgte dafür, dass viele Grundstücke nach dem Krieg für absolute Mindestpreise verkauft wurden – und dann sofort in die Höhe schossen, als die Preisstoppverordnung 1960 aufgehoben wurde.
Vogel etwa ließ sich vom Gutachterausschuss München den Zuwachs der Münchner Bodenpreise seit 1950 berechnen. Er vergleicht die 39.390 Prozent dann – um sie in Kontext zu setzen – mit dem Anstieg der gesamtdeutschen Bodenpreise. Diese sollen in einem ähnlichen Zeitraum – seit 1962 – um mehr als 2.000 Prozent gestiegen sein. Die eine Zahlenreihe beginnt also während der Preisstoppverordnung, die andere danach.
In der Tabelle springt der Preis für München von drei Euro pro Quadratmeter im Jahr 1950 auf 32 Euro im Jahr 1962. In absoluten Zahlen mag das nicht viel erscheinen. In Prozent ausgedrückt, ist es jedoch ein Anstieg um fast 1.000 Prozent. Der sehr niedrige Ausgangspreis hat also extreme Auswirkungen auf den prozentualen Anstieg.
Wie sehr, das zeigt ein einfaches Rechenbeispiel: Wählt man als Ausgangspunkt 1950, beträgt der prozentuale Zuwachs der Bodenpreise 62.433 Prozent. Wählt man als Anfangsjahr stattdessen 1962, dann steigen die Bodenpreise plötzlich "nur noch" um 5.763 Prozent.
Welchen Wert ziehe ich heran, um den Anstieg der Bodenpreise zu berechnen?
Es gibt jedoch noch andere Gründe dafür, warum sich Experten schwertun, einen prozentualen Bodenpreisanstieg zu berechnen. Albert Fittkau, Leiter des Münchner Gutachterausschusses, berechnete die Zahlen für das Buch, wendet aber ein: "Solche Zahlen werden politisch verwendet, ohne die damit verbundenen Unschärfen und Systemwechsel zu berücksichtigen."
Die "Unschärfen" beginnen bei dem Wert, den man als Grundlage für die Berechnung heranzieht. In der Tabelle findet man für die bundesweiten Werte den "durchschnittlichen Kaufwert für baureifes Land pro Quadratmeter". Soll heißen: Man zählt all das Geld zusammen, das im Jahr zuvor für baureifes Land gezahlt wurde, und teilt das durch die Gesamtquadratmeterzahl des verkauften Landes.
Aus diesen Durchschnitten einen Anstieg zu berechnen, ist statistisch jedoch problematisch. Warum? Werden in einem Jahr vor allem günstige Grundstücke in Randlagen verkauft, sinkt der Durchschnitt; einzelne sehr teure Grundstücke können den Durchschnitt zugleich nach oben verzerren. Über einen tatsächlichen Preisanstieg muss das aber gar nichts aussagen.
"Eine gewisse Aussagekraft hat der Wert erst, wenn man sich die Entwicklungen über einen sehr langen Zeitraum anschaut", sagt Mathias Gross, im Bundesamt für Statistik zuständig für Bodenpreise.
Wie haben sich die Grundstücke in München über die Jahre verändert?
Statistiker warnen jedoch auch aus anderen Gründen davor, Durchschnitts-Bodenpreise über die Jahre miteinander zu vergleichen. In vielen Veröffentlichungen der Statistikämter von Bund und Ländern steht deshalb der folgende Hinweis:
"Die ausgewiesenen Durchschnittswerte sind für einen zeitlichen Vergleich nur bedingt verwendbar, weil die statistischen Massen, aus denen sie ermittelt werden, sich jeweils aus anders gearteten Einzelfällen zusammensetzen können. (…) Aus diesem Grund werden auch keine prozentualen Veränderungen (Baulandpreisindizes) veröffentlicht."
Vereinfacht könnte man das Problem so erklären: Wer den Preisanstieg von Äpfeln berechnen will, darf ihre Preise nicht mit denen von Birnen vergleichen.
Wer Boden-Verkaufspreise über die Jahre vergleicht, vergleicht oft Äpfel mit Birnen
Die Durchschnitts-Bodenpreise in München von Anfang der 1960er mit denen der 2010er zu vergleichen, sei aber genau das: "Äpfel mit Birnen vergleichen", sagt Rudolf Stürzer, Vorsitzender der Haus- und Grundbesitzervereins in München. Ähnlich formulieren es auch Experten der Statistikämter von Bund und Ländern und des Münchner Gutachterausschusses. Denn Grundstücke in München sind nicht nur teurer geworden – sie haben sich auch grundlegend verändert.
Auf einem Stück Land, auf dem im Jahr 1950 vielleicht 100 Quadratmeter Wohnfläche und ein Stockwerk gebaut werden durften, dürften heute manchmal 500 Quadratmeter und drei Geschosse gebaut werden, sagt etwa Stürzer, der Chef des Haus- und Grundbesitzervereins. Es lasse sich also heute mit dem teureren Grundstück auch viel mehr Geld verdienen.
Zudem gebe es jetzt womöglich eine U-Bahn-Haltestelle, schmucke Cafés und Galerien um die Ecke, die die Gegend aufwerten. Auch die Lage verändert die Qualität eines Grundstücks. Selbst wenn jedes Jahr nur genau dieselben fünf Grundstücke in München verkauft würden, würde ein Preisanstieg also nicht unbedingt bedeuten, dass sie teurer sind. Sondern auch, dass sich ihre Qualität veränderte.
Hinzu kommen noch andere Faktoren, die sich auf den Preis auswirken – wie den allgemeinen Preisanstieg und die Inflation –, die man eigentlich herausrechnen müsste. Ein Problem, auf das auch Vogel in seinem Buch hinweist.
Fittkau hat für Vogel ein Beispiel-Grundstück konstruiert
Albert Fittkau vom Münchner Gutachterausschuss zog deshalb nicht die Durchschnittsverkaufspreise heran. Aus alten Dokumenten und Urkunden konstruierte er eine Art fiktives Beispiel-Grundstück in München, das sich über die Zeit wenig veränderte – und an dem sich der Preisanstieg einigermaßen realistisch nachvollziehen ließe. Die Konstruktion sollte möglichst viele der oben genannten Probleme ausschließen. Es sind die Zahlen, die in der Spalte "München" zu sehen sind.
Was die Tabelle allerdings nicht explizit zeigt: Dass hier zwei Zahlenreihen nebeneinanderstehen, die eigentlich nicht miteinander vergleichbar sind. Über beiden steht "Bauland pro Quadratmeter". Doch bei der einen Zahlenreihe ("bundesweit") handelt es sich um die Durchschnittspreise pro Quadratmeter. Das teilt das Statistische Bundesamt auf Anfrage mit. Die andere Zahlenreihe rechts ("München") ist eben jenes Beispiel-Grundstück, das der Gutachterausschuss München eigens für Vogel errechnete.
Dass diese beiden Werte eigentlich nicht miteinander vergleichbar sind, sieht inzwischen auch Vogel so: "Darauf sollte – etwa bei einer Neuauflage des Buches – aufmerksam gemacht werden", sagt er.
Unterschiedlichste Prozentzahlen, je nach Berechnungsgrundlage
Sind die 39.390 Prozent also falsch? Wenn man die Werte der Tabelle zugrunde legt, dann ist die Zahl zumindest falsch berechnet. Ist sie absolut falsch? Nein. Denn die Statistiker haben sie nach bestem Wissen und Gewissen berechnet. Nur könnte man eben genauso gut sagen, dass die Bodenpreise in München um 62.433 Prozent gestiegen sind. Oder um 5.763 Prozent, wenn man stattdessen das Ausgangsjahr 1962 wählt.
Fazit
Die Bodenwerte in München sind stark gestiegen, darin sind sich Experten einig. Dennoch ist es schwierig, den genauen Anstieg in Prozentzahlen zu beziffern. Denn Grundstücke in München verändern sich ständig, sodass ein höherer Preis nicht unbedingt nur eine Verteuerung abbildet. Hinzu kommen andere Faktoren wie die Inflation und ein genereller Preisanstieg, die man aus einem Anstieg eigentlich herausrechnen müsste. Und: Je nachdem welchen Ausgangspunkt und welche Werte man für die Berechnung wählt, können ganz andere Prozentzahlen herauskommen.
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