Ein Adler erspäht selbst kleine und weit entfernte Beute, eine Eule hört die leisesten Bewegungen - aber dass ein Vogel sich beim Beutefang von seinem Geruchssinn leiten lässt, davon ging man bislang weniger aus. Vögel besitzen schließlich auch keine Nase, so wie wir sie gewohnt sind. Doch Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Radolfzell und des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz haben jetzt Störche beobachtet und gezielt angelockt - und herausgefunden: Sie werden vom Geruch frisch gemähten Grases angezogen, weil sie auf der kurzgeschorenen Wiese ganz leicht Frösche, Schnecken und anderes Getier finden. Daraus schlussfolgern die Forscher, dass der Geruchssinn auch bei anderen Vögeln eine größere Rolle spielt als gedacht.
Der Bauer mäht, die Störche kommen geflogen
Viele Landwirte haben das Phänomen schon beobachtet: Kaum beginnen sie mit dem Mähen einer Wiese, sind auch schon die ersten Störche da - und bedienen sich furchtlos direkt hinter dem Traktor eines reichhaltigen, frischen Buffets: Frösche, Schnecken und kleine Nager können sich im hohen Gras nicht länger verstecken, die Störche können sich ohne viel Aufwand an ihnen laben. Manchmal lässt sich jedoch auch auf einer frisch gemähten Wiese kein Storch blicken - und so war bislang nicht bekannt, was die Störche eigentlich zur reichen Futterquelle lockt und wie sie sie finden.
Vögel besitzen einen sehr großen Riechkolben
Bislang gingen Forscher davon aus, dass sich Vögel auf ihrem Beutezug vor allem auf ihre Augen und Ohren verlassen und weniger auf ihren Geruchssinn. "Man hat einfach angenommen, dass Vögel nicht gut riechen können, weil sie ja keine richtigen Nasen haben", berichtet Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. "Dabei haben sie einen sehr großen Riechkolben im Gehirn mit vielen Rezeptormolekülen für Duftstoffe." Vögel besitzen also die besten Voraussetzungen für ein feines Näschen - auch wenn man es ihnen nicht ansieht.
Fliegen Störche auf das Gras-Parfum?
Martin Wikelski beobachtet und erforscht Störche schon länger. Als er mit seinem Kollegen Jonathan Williams über die rätselhafte Reaktion der Vögel auf die frisch gemähten Wiesen sprach, hatte der sofort eine Vermutung: Williams kennt sich mit flüchtigen organischen Verbindungen aus und untersucht deren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. "Meine Vermutung war, dass die Störche auf den intensiven Geruch des frisch geschnittenen Grases reagieren", erzählt Williams. Dieser ganz typische Duft wird von sogenannten grünen Blattduftstoffen erzeugt und besteht nur aus drei verschiedenen Molekülen. "Die werden zum Beispiel auch Parfums zugesetzt, um ihnen eine frische, 'grüne' Note zu geben", weiß Williams.
Störchen musste das Mähen der Wiese verheimlicht werden
Zusammen wollten die beiden Forscher herausfinden, ob die Störche wirklich über ihren Geruchssinn auf das frisch gekürzte Gras aufmerksam werden. Dafür mussten sie jedoch zuerst eine wichtige Vorkehrung treffen: Verhindern, dass die Vögel das Mähen der Wiese anderweitig mitbekommen. "Wir mussten zuerst ausschließen, dass die Störche den Traktor hören oder den Mähvorgang sehen konnten", erklärt Wikelski. Die Forscher konzentrierten sich auf die rund 70 Störche, die im und um das Dorf Böhringen, einem Teilort von Radolfzell am Bodensee, zuhause sind. Sie suchten eine Wiese aus, die von dieser Storchenpopulation weit genug weg und auch nicht einsehbar war. Zur Sicherheit beobachteten sie die Bewegungen der Vögel sowohl vom Flugzeug aus als auch über die GPS-Sensoren markierter Tiere.
Die Wissenschaftler nahmen nur die Störche in ihre Untersuchungen auf, die mehr als 600 Meter weit von der gemähten Wiese entfernt waren und sicher keinen direkten Sichtkontakt hatten. Sie achteten ebenfalls darauf, dass diese Störche nicht durch das Verhalten von Artgenossen oder anderen Vögeln auf das Mähen aufmerksam gemacht wurden.
Die Störche bekommen Wind vom Mähen
Als das Mähen begann, passierte etwas Erstaunliches: Es flogen nur die Störche zur Wiese, die sich windabwärts aufhielten. Die Störche, die sich windaufwärts befanden, bekamen buchstäblich keinen Wind davon und kamen auch nicht.
Jetzt mussten die Forscher testen, ob es wirklich allein der Geruch des geschnittenen Grases ist, der die Vögel anlockt. Dafür verteilten die Wissenschaftler frisches Gras auf einer zwei Wochen zuvor gemähten Wiese: "Das Gras dieser Wiese war immer noch sehr kurz. Deshalb ist sie für die Störche zur Futtersuche uninteressant", erklärt Wikelski. Doch kaum lag das frische Gras darauf, flogen auch schon die ersten Störche ein und suchten darin nach Beute. Aber nach etwa zehn Minuten bemerkten sie den Schwindel, stellten die Suche ergebnislos ein und flogen wieder von dannen.
Störche reagieren auch auf künstlichen Gras-Duft
Schließlich mixten die Forscher noch eine Lösung aus den grünen Blattduftstoffen und versprühten sie auf einer Wiese mit kurzem Gras. Jetzt duftete auch diese Wiese wie frisch gemäht - und zog ebenfalls Störche an. "Dies belegt, dass Störche über Gerüche in der Luft zu Futterstellen finden", sagt Williams.
Störche werden vom Gras-Duft über viele Kilometer angelockt
Was Wikelski und Williams herausfanden, widerspricht der bisherigen Annahme, Störche würden vor allem ihre Augen zur Futtersuche nutzen. Die Vögel verlassen sich zumindest bei der Anreise auf ihren Geruchssinn: "Es gab Störche, die von der anderen Seite des Bodensees über 25 Kilometer zu den gemähten Wiesen geflogen sind", berichtet Wikelski.
Geruchssinn für Vögel wichtiger als gedacht
Jetzt vermuten die Forscher, dass Vögel ihren Geruchssinn bei der Nahrungssuche häufiger einsetzen als bislang erwartet. Greifvögel wie Bussarde und Rotmilane werden schließlich auch häufig über frisch gemähten Wiesen beobachtet.
Generell wird dem Geruchssinn bei Vögeln seit einigen Jahren mehr Beachtung geschenkt: Dass Geier Kadaver riechen können, konnte bereits gezeigt werden. Manche Seevögel scheinen Mikroorgansimen an der Meeresoberfläche zu erschnuppern. Stare wählen ihr Nistmaterial anhand des Geruchs aus. Manche Singvögel erschnüffeln ihre Feinde. Zebrafinken stützen sich bei der Partnerwahl zumindest teilweise auf den Geruch. Das Max-Planck-Institut forscht schon länger daran, wie sich Vögel an Gerüchen orientieren: Brieftauben zum Beispiel navigieren mithilfe von Geruchslandkarten und auch Zugvögel prägen sich ihre Routen mithilfe von Düften ein. Bestimmt entdecken Wissenschaftler bald noch viel mehr Zusammenhänge - obwohl Vögel keine Nase besitzen, so wie wir sie kennen.
Die Studie wurde am 18. Juni 2021 in "Scientific Reports" veröffentlicht. Hier können Sie sie einsehen.
Im Video: Schon ein Papiertaschentuch setzt Störchen zu
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