Vermutlich lösten Renovierungsarbeiten den Brand aus, der die Pariser Kathedrale Notre-Dame in 16 Stunden schwer beschädigte. Der Dachstuhl aus Eichenholz, eine Konstruktion aus dem Mittelalter, ist größtenteils verbrannt. Teile des Deckengewölbes sowie der berühmte Vierungsturm, eine Verbindung von Haupt- und Querschiff, wurden durch das Feuer zerstört. Das war die erste Bestandsaufnahme nach den Löscharbeiten. Doch der Beginn des Wiederaufbaus von Notre-Dame ist nach einem Jahr immer noch nicht möglich. Ständig stehen Architekten und Wissenschaftler vor neuen Aufgaben, wie sie die Reste der Kathedrale retten sollen.
Notre-Dame beherbergte Kunst- und Kulturschätze des europäischen Mittelalters
Im Jahr 1163 wurde mit dem Bau der Kirche begonnen. Bereits 1182 stand der Chor, danach folgten das Hauptschiff, die Westfassade (1225) und die Türme (1250). Das Kircheninnere ist 130 Meter lang und 35 Meter hoch und besteht aus fünf Schiffen. Die beiden Türme der Fassade erreichen eine Höhe von 69 Meter. Diese gigantischen Ausmaße machten Notre-Dame zum Wahrzeichen von Paris, mit einem täglichen Ansturm von fast 35.000 Besuchern. Schließlich beherbergte es Kunst- und Kulturschätze des europäischen Mittelalters und eine der wichtigsten Reliquien von Paris: Ein Fragment der Dornenkrone und einen Kreuznagel Jesus.
Stabilisierungsmaßnahmen für den Wiederaufbau von Note-Dame
Nach den Löscharbeiten stellte sich bald heraus, dass viele wertvolle Kunst- und Kulturschätze gerettet werden konnten. Aber was von Notre-Dame noch stand, drohte einzustürzen. So musste in den ersten Monaten nach dem Brand zunächst das Gebäude abgesichert werden. Inzwischen sind einige hundert Tonnen Material gesammelt, Statuen abgetragen und Teile der Kirchenfenster ausgebaut. Schwere Träger stützen nun Pfeiler und Gewölbe im Inneren der Kathedrale. Weitere Holzkonstruktionen von außen sollen die Mauern zusammenhalten.
Die Sicherungsarbeiten sind fast abgeschlossen. Sie fanden unter extremen Bedingungen und teilweise in schwindelnder Höhe statt. So spannten Industriekletterer eine Plane, als vorläufiges Dach, befestigten die gigantischen Holz- und Stahlsicherungen und sammelten abgestürzte Teile aus den Gewölben. Die eingesammelten Materialien sind archäologische Funde, sie werden katalogisiert und untersucht. Wissenschaftler aus der ganzen Welt untersuchen die historischen Steine und Gemäuer. Sie können damit nicht nur historische Bautechniken erforschen, sondern auch die Veränderungen des Klimas in den letzten Jahrhunderten nachweisen.
Das Stahlgerüst wird zum Problem
Vor dem Brand wurde ein Gerüst für Renovierungsarbeiten um den Spitzturm angebracht. Der sogenannte Vierungsturm stürzte bei dem Feuer komplett zusammen. Dieses Baugerüst, bestehend aus 300 Tonnen Stahl und 35.000 Einzelteilen, ragt immer noch über die Vierung und dem Querhaus. Durch den Brand sind die Stahlträger verbogen und ineinander verschmolzen. Die Demontage ist gefährlich, denn es könnte alles zusammenbrechen und die Mauern der Kathedrale mitreißen. Bei den hohen Windgeschwindigkeiten in den Wintermonaten wurden die Bauarbeiten teilweise ausgesetzt. Der komplette Abbau soll nun im Sommer stattfinden, ist aber wegen der Corona-Krise momentan ausgesetzt.
Giftige Rückstände im Inneren von Notre-Dame
Ein weiteres Problem tauchte bei den Sicherungsarbeiten auf: Das durch den Brand geschmolzene Dach löste eine enorme Bleibelastung aus. Das Blei war mit dem Dach verbaut. Durch das Feuer wurde es flüssig und lief in das Kircheninnere. Nur mit Masken und Schutzanzügen konnten die Arbeiter die heruntergefallenen Steine aufräumen und mussten alle halbe Stunden pausieren.
Bamberger Forscher helfen beim Wiederaufbau von Notre-Dame
Noch immer wird diskutiert, wie dieses Weltkulturerbe wieder aufgebaut werden soll. Ist eine originalgetreue Rekonstruktion überhaupt möglich? Der Kunsthistoriker Stephan Albrecht von der Universität Bamberg gehört zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, die den Wiederaufbau begleiten. Die Universität Bamberg stellt Datenmaterial zur Verfügung, das vor dem Brand am 15. April 2019 erstellt wurde. Experten des Instituts für Archäologische Wissenschaften, Denkmalwissenschaften und Kunstgeschichte der Uni Bamberg, hatten die Kathedrale in verschiedenen Projekten erforscht. Mit 3-D-Scans der Innen- und Außenseite des vom Feuer schwer betroffenen Querhauses sowie mit Farbanalysen des Nord- und Südportals liegen wichtige Daten vor, wie Teile von Notre-Dame vor dem Brand wirklich aussahen. Bei seinem ersten Abgleich mit den Schäden vor Ort konnte er bereits erkennen:
„Wir haben festgestellt, dass besonders im oberen Bereich die Wände stark verzogen waren, bereits vor dem Brand, dass es also keine Brandschäden sind. Und wenn man sich jetzt die Statik anguckt, gibt es nichts, was einen beängstigen muss, sondern ganz im Gegenteil, dass man das alles so lassen kann.“ Stephan Albrecht, Kunsthistoriker Universität Bamberg
3-D-Scans als wichtige Quelle für den Wiederaufbau
Stephan Albrecht hat mit seinem Team ein dreidimensionales Abbild des Querhauses erstellt. Mit einem Laserscan wurde das Gemäuer millimeter genau und Stein für Stein erfasst. Diese Detailaufnahmen sind für eine Rekonstruktion von Notre-Dame von großer Bedeutung und sie können mit einem Vergleich des Ist-Zustandes Schlimmeres verhindern. Denn Stephan Albrecht weiß, dass es bei mittelalterlichen Portalen üblich war, die Steine mit Eisen zu verbinden, damit Torbögen halten: "Durch den Brand könnte das Eisen sich ausgedehnt haben", sorgt sich der Historiker. Risse könnten die Statik des Gebäudes gefährden, nicht nur im Portal, sondern im gesamten Mauerwerk. Ein neuer Scan nach dem Brand kann die gefährdeten Stellen aufdecken.
Einblick in die historische Baugeschichte von Notre-Dame
Über die Baugeschichte von Notre-Dame gibt es keine schriftlichen Quellen. Deshalb interessieren sich die Forscher für die Materialien, Techniken und den Baustil der Kathedrale. So konnten sie schon bei ihren ersten Aufnahmen feststellen, dass erste Änderungen im Querhaus bereits stattfanden, bevor das gesamte Bauwerk fertiggestellt war. Nachweisen können die Forscher ebenso, dass ein Team aus Bildhauern, Malern und Steinmetzen im Einsatz war und die Skulpturen und Gemäuer gleichzeitig angefertigt und vermauert wurden. Für den Wiederaufbau wird ein größeres Team notwendig sein, um die gotische Kathedrale wieder originalgetreu zu rekonstruieren. Doch die Forscher und Architekten müssen sich noch gedulden, bis die Sicherungsarbeiten komplett abgeschlossen sind und die Bestandsaufnahmen für das ganze Gebäude vorliegen. Erst dann kann der nächste Schritt, der Wiederaufbau, überhaupt erst beginnen.
Zukunft von Notre-Dame
Unterdessen wird diskutiert, welche Konstruktionen und Visionen umgesetzt werden sollen. Darunter sind futuristische Vorschläge mit einem Dach aus Glas und Stahl oder ein Vierungsturm, der um ein Vielfaches höher sein soll als der ursprüngliche. Sogar Pläne für ein Gewächshaus anstatt des Dachstuhls oder ein Schwimmbad liegen vor. Für den Kunsthistoriker Stephan Albrecht unvorstellbar, denn damit würde das ganze historische Gebäude „banalisiert“. Er möchte Notre-Dame wieder so aufbauen, wie es vor dem Brand war: Mit einem Dachstuhl aus Holz. Wenn genug Zeit und Geld dafür zur Verfügung steht, wäre das möglich.
Die ursprüngliche Fünf-Jahres-Planung für den Wiederaufbau wird vermutlich nicht eingehalten werden können. Schließlich stehen alle Arbeiten im Moment still. Die Ausgangsbeschränkungen aufgrund der weltweiten Corona-Pandemie haben auch Auswirkungen auf Notre-Dame. Die Kölner Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner, ebenfalls beteiligt am Wiederaufbau von Notre-Dame, prophezeit, dass es sogar einige Jahrzehnte dauern könnte. Nun soll der Wiederaufbau 2021 beginnen.