Stärkere Verknüpfungen zwischen neuronalen Netzwerken können Defizite bei Menschen ausgleichen, denen eine Gehirnhälfte fehlt.
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Stärkere Verknüpfungen zwischen neuronalen Netzwerken können Defizite bei Menschen ausgleichen, denen eine Gehirnhälfte fehlt.

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Warum ein halbes Gehirn mitunter volle Leistung bringt

Manche Patienten, denen eine Gehirnhälfte entfernt wird, büßen kaum geistige Fähigkeiten ein. Jetzt konnten Forscher zeigen, wie die verbliebene Hemisphäre Aufgaben übernimmt. Erkenntnisse, die langfristig bei Hirnverletzungen helfen könnten.

Denken ist Teamarbeit: Die Nervenzellen in unserem Gehirn sind untereinander verbunden und kommunizieren in einem fort miteinander. Dabei übernehmen Netzwerke unter der Schädeldecke unterschiedliche Funktionen und beeinflussen damit unser kognitiven Fähigkeiten, unsere Gefühlswelt und unser Handeln.

Was aber passiert, wenn ein Teil der Hirn-Strukturen zerstört wird - sei es durch eine Kopfverletzung, sei es durch einen Schlaganfall oder Gehirn-Tumor? Häufig verändern solche Hirntraumata die kognitiven Fähigkeiten und die Persönlichkeit der Patienten. Doch in wenigen Ausnahmefällen gelingt es dem geschädigten Gehirn, die fehlenden neuronalen Strukturen auszugleichen, so dass die betroffenen Patienten kaum in ihrem geistigen Vermögen beeinträchtigt sind.

Normales Leben mit einer Gehirnhälfte

Warum das so ist, konnte nun ein Team um die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Dorit Kliemann zeigen, berichtet das Fachmagazin Cell Reports. Die Forscher untersuchten sechs Probanden, denen im Alter von drei Monaten bis 11 Jahren eine Gehirnhälfte entfernt werden musste. Dieser von Medizinern "Hemisphärektomie" genannte Eingriff wird - allerdings äußerst selten - in sehr schweren Fällen von Epilepsie durchgeführt. Erstaunlicherweise hatten diese sechs Patienten durch den schweren Eingriff kaum kognitive Einbußen erlitten, die Betroffenen konnten weiterhin normal denken und sprechen.

"Die Personen, denen wir uns gewidmet haben, sind hoch funktional. Sie haben zum Beispiel intakte Sprachfähigkeiten. Ich konnte mit ihnen Smalltalk halten wie mit jedem anderen Menschen. Fast vergisst man ihren Zustand, wenn man sie zum ersten Mal trifft.“ Dorit Kliemann, California Institute of Technology, Pasadena

Vergleich der Gehirnhälften mit "normalen" Gehirnen

Um das Phänomen nachzuvollziehen, verglichen die US-Forscher die Hirnaktivität der verbliebenen Gehirnhälfte der Epilepsie-Patienten mit Aufnahmen von sechs gesunden Kontrollpersonen sowie Daten von knapp 1.500 „normalen“ Gehirnen aus einer Datenbank. Besonders interessierten sich die Forscher dabei für die neuronalen Netze. Denn um den Verlust einer Hirnhälfte auszugleichen, so nahmen die Forscher an, müssten sich diese Netzwerke, die zum Beispiel für Sehen, Bewegung, Kognition oder Emotionen zuständig sind, in der verbliebenen Hälfte massiv verändert haben.

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Funktionelle MRT-Aufnahme von zwei der sechs Probanden mit linker bzw. rechter neurochirurgischen Entfernung einer Gehirnhälfte.

Überraschende Ähnlichkeit

Tatsächlich stellten die Wissenschaftler aber eine überraschende Ähnlichkeit bei Probanden mit nur einer Hirnhälfte und denen mit intaktem Gehirn fest. Innerhalb der Hirnhälften war eine ausgeprägte und vergleichbare Verknüpfung von Netzwerken feststellbar. Der Unterschied lag allein darin, dass die Netzwerke bei den Patienten mit nur einer Hemisphäre deutlich stärker verknüpft waren, diese also stärker miteinander kommunizierten.

Mechanismen innerhalb der Hirn-Organisation entscheidend

Diese Erkenntnisse über die Ausgleichsmechanismen von geschädigten Hirn-Strukturen könnten nach Ansicht der Forscher Hinweise auf neue Strategien geben, um mehr Menschen mit Hirnverletzungen zu helfen. Die Einblicke in die Gehirne der Epilepsie-Patienten legten nahe, dass Mechanismen innerhalb der Hirn-Organisation in nur einer Hälfte des typischerweise verfügbaren Hirnrinde genügten, um einen umfangreichen kognitiven Ausgleich zu ermöglichen. Um diese Zusammenhänge noch besser zu verstehen, wollen die US-Wissenschaftler künftig noch mehr Menschen mit atypischen Gehirnstrukturen untersuchen.

“Manchmal kann schon eine kleine Gehirnverletzung etwa durch einen Schlaganfall, einen Unfall oder einen Tumor dramatische Folgen haben. Wir wollen verstehen, unter welchen Bedingungen sich das Gehirn reorganisieren und den Verlust einzelner Strukturen kompensieren kann. " Dorit Kliemann, California Institute of Technology, Pasadena