Christian sitzt auf seiner Couch und lächelt freundlich vor sich hin. Er ist 42 Jahre alt, schaut aber jünger aus. Man dürfe ihn "alles fragen", sagt er. Doch schon die erste Frage, nämlich nach dem positiven Aidstest, ist ihm vielleicht etwas zu direkt. "Das war ein Riesenschock", sagt Christian mit einem Wackeln in der Stimme. Das Testergebnis kam für ihn damals völlig unerwartet. Schon vorher steckte er seit Jahren in einer Depression. Es sei schwer für ihn gewesen, aus dieser herauszukommen, doch mit Hilfe von Freunden sei ihm das gelungen.
Erlebnisse: Medizin-Personal reagierte unangemessen auf HIV
Christian bekam sein positives Testergebnis im Oktober. Schon damals gab es Medikamente gegen das Humane Immundefizienz-Virus, kurz HIV. Doch Christian misstraute aus verschiedenen Gründen dieser sogenannten antiretroviralen Therapie. Auch aufgrund seiner Erfahrungen mit dem medizinischen Personal: "Ich musste nochmal in die Pettenkofer Straße, und da war eine Frau bei der Anmeldung. Die meinte: 'Na, hat man keinen Kondömchen benutzt?'" Ein, zwei Monate später war Christian bei seinem Hausarzt: "Der hat dann gesagt: 'Ja, das kommt davon, wenn man promisk lebt.' Das war dann schon ein Schock, wo man ein bisschen das Vertrauen in die Ärzte verliert."
Christian nahm erst einmal keine Medikamente, auch weil er der Therapie an sich nicht ganz traute. Mehr als zehn Jahre blieb er, von den massiven seelischen Problemen abgesehen, nach eigener Aussage "kerngesund". Dann kamen die ersten Aids-typischen Erkrankungen, unter anderem eine Lungenentzündung, bei der er schon mit seinem Leben abgeschlossen hatte.
Normales Leben mit antiretroviraler Therapie
Im August 2023 begann Christian doch mit der antiretroviralen Therapie. Dreieinhalb Monate später schaut er tatsächlich kerngesund aus: "Meine Werte sind natürlich schon besser geworden. Vor allem die Viruslast: Die ist von über einer Million auf jetzt schon 30.000 runter. Auch vieles andere: meine Schilddrüsenunterfunktion und natürlich Blutarmut. Und ich hatte einen riesenhohen Entzündungswert. Also: Mein ganzer Körper war komplett im Arsch."
Jetzt führt Christian nach eigener Aussage das, was die antiretrovirale Therapie tatsächlich verspricht: ein ganz normales Leben. "Definitiv. Ich habe ein ganz normales Leben. Trotz positivem Test und trotz, teilweise immer noch, hoher Viruslast." Die Viruslast liegt bei ihm bei 30.000 Virenkopien pro Milliliter Blut.
Nach längerer Therapie geht sie herunter auf unter 50. HIV gilt dann als nicht mehr nachweisbar. Wobei das eine willkürlich festgesetzte Grenze ist, erklärt Christoph Spinner, Professor für Infektiologie und HIV-Experte am Klinikum Rechts der Isar in München. "Bei einem Menschen mit einer unbehandelten HIV-Infektion liegen in der Regel viele Hunderttausend bis Milliarden Kopien pro Milliliter vor. Die sogenannte Viruslast von 50 Kopien entspricht einer sogenannten vollständigen funktionalen Heilung. Gleichzeitig weiß man auch, dass bei unter 50 Viruskopien keine Übertragung mehr möglich ist. Unsere medizinischen Methoden der Nachweisverfahren sind heute allerdings so empfindlich, dass wir auch noch Bruchstücke von Viren nachweisen können."
Kaum noch Nebenwirkungen bei der HIV-Therapie
Die antiretroviralen Medikamente werden seit Mitte der 1990er-Jahre breit eingesetzt. Zunächst war die Behandlung aufwendig und mit vielen Nebenwirkungen verbunden. Mittlerweile ist sie einfach und hat kaum Nebenwirkungen. "Zu Beginn der HIV-Therapien mussten etwa alle acht Stunden sechs Tabletten eingenommen werden. Das mit einer Mahlzeit und mit häufigen Nebenwirkungen wie Durchfall und anderen Beschwerden. Heute nehmen unsere Patientinnen und Patienten in der Regel eine Tablette einmal am Tag."
Die Tablette enthält eine Kombination aus mehreren Wirkstoffen, die alle miteinander eines erreichen: Die Viren können sich nicht mehr vermehren. Sie blockieren die Enzyme, die das Virus braucht, um die menschlichen Zellen so zu verändern, dass sie selbst beginnen, das Virus herzustellen. Da die Wirkstoffe dafür entwickelt wurden, gezielt an die Virenenzyme anzudocken, haben sie für den menschlichen Körper so wenige Nebenwirkungen, erklärt Spinner.
Allerdings: Das Virus wird nicht eliminiert. Es überwintert sozusagen, weil es sich im menschlichen Genom einnistet. Aber eben in so winzigen Mengen, dass es schlicht nichts mehr "anstellt". Und auch keine Ansteckung mehr bewirken kann, solange die Therapie fortgesetzt wird, erklärt Christoph Spinner: "Das ist inzwischen heute zweifelsfrei. Deshalb gibt es von der Weltgesundheitsorganisation auch eine große Kampagne, dass 'nicht nachweisbar' mit 'nicht übertragbar' vergesellschaftet ist." Mittlerweile ist auch noch eine weitere Form der Verabreichung zugelassen: eine Spritze alle acht Wochen. Sie ist allerdings nicht für jeden Patienten geeignet.
PrEP – die Tablette, die fast wirkt wie ein Kondom
Seit den 2010er-Jahren gibt es noch eine weitere Waffe im Kampf gegen das Virus: die Prä-Expositionsprophylaxe, kurz PrEP. In Deutschland ist sie seit vier Jahren zugelassen. Ein antivirales Medikament das, salopp gesagt, fast so gut vor Ansteckung schützt wie ein Kondom.
"Die PrEP besteht aus zwei antiviralen Medikamenten Emtricitabin und Tenofovir. Das sind Reverse-Transkriptasehemmer, die ein spezifisches Virusenzym blockieren, das das HI-Virus benötigt, um sich zu vermehren. Dadurch kann sich das Virus dann weder in den menschlichen Körper einnisten und sich auch nicht vermehren. Also vereinfacht gesagt: Es verhindert die Neuinfektionen."
Die PrEP sorgte zunächst für einige hochgezogene Augenbrauen: "Ein Medikament, das die Kasse für Risikogruppen bezahlt, nur um ungeschützt Sex haben zu können?" Die Fachwelt sieht das anders. Vereinfacht gesagt: Alles, was niederschwellig ist und Neuansteckungen verhindert, ist gut.
"Wir sind in Deutschland nach wie vor eines der wenigen Länder der Welt, die PrEP als Prävention für Risikogruppen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung anbieten. Und ich glaube, wir tun auch gut daran: Alle Studien zeigen, dass sie geeignet ist, Neuinfektionen zu verhindern."
Darum gibt es noch keine Impfung gegen HIV
Weniger als ein Jahr hat die Entwicklung des ersten Corona-Impfstoffs gedauert. Das war allerdings eine Weltpremiere. Normalerweise veranschlagt man grob ein Jahrzehnt, um einen Impfstoff zur Zulassung zu bringen. Das HI-Virus ist nun seit 40 Jahren bekannt, einen Impfstoff gibt es aber immer noch nicht. Das liegt vor allem daran, dass sich HI-Viren noch schneller verwandeln als die meisten anderen. Christoph Spinner. "Vereinfacht gesagt ist das Virus dem menschlichen Immunsystem immer einen Schritt voraus. Es gibt bis heute keine bekannten, wirklich stabil und breit neutralisierende Antikörper, die gegenüber allen zirkulierenden HIV-Varianten wirksam sind. (…) Deshalb sind alle Impfstoffversuche, so vielversprechend sie bislang waren, immer gescheitert."
Die Universität Innsbruck versucht momentan einen anderen Weg einzuschlagen. Die Innsbrucker Wissenschaftler wollen einen Teil der unspezifischen Immunabwehr gegen das HI-Virus nachstellen, das normalerweise bei der Impfstoffentwicklung nicht in Erwägung gezogen wird, das sogenannte Komplimentärsystem. Es ist Teil einer Immunreaktion, die so stark ist, dass sie auf Dauer schädlich sein kann. "Unsere Forschungsergebnisse weisen aber darauf hin, dass wir bei der HIV-Impfstoffentwicklung umdenken müssen", so die Professorin für Infektionsbiologie Doris Wilflingseder. Wann es zum Beispiel solch eine Impfstoff geben könnte, will Wilflingseder aber nicht prognostizieren. Dennoch, so die Uni, zeigten die bisherigen Ergebnisse, dass sich "auch auf einem breit erforschten Gebiet ungeahnte Wege auftun können".
HIV noch lange keine Infektion unter vielen
Die Wissenschaft forscht emsig und, wenn man zum Beispiel die antiretrovirale Therapie betrachtet, mit großem Erfolg. Die Gesellschaft hinkt, wie oft, solchen Fortschritten hinterher, auch wenn Christian jetzt ganz andere Ärzte kennt als vor 14 Jahren: "Der Arzt, den ich jetzt habe, ist so freundlich und ohne irgendwelches: 'Ah, hast du es nicht genommen?' oder so. Man fühlt sich sehr aufgehoben, und das ist sehr wichtig."
Doch Unwissenheit, Vorurteile bis hin zur Diskriminierung in der Öffentlichkeit oder von medizinischem Personal sind keineswegs Vergangenheit. Im Gegenteil: Laut Gesellschaft zur Förderung der sexuellen Gesundheit nimmt in fast allen Ländern, auch in Deutschland, die Tabuisierung zu. "Wir erleben eine Rolle rückwärts, die erschreckend ist", sagt Norbert Brockmeyer, Präsident der Gesellschaft und Professor für Haut und Geschlechtskrankheiten.
Hildegard, Postbotin aus Fürstenzell, berichtet im BR-Fernsehen von erschreckenden Reaktionen bei medizinischem Personal: "Dann heißt es wirklich zum Teil: 'Kommen sie am Schluss, wenn alles geputzt ist', oder: "Ach, gehen sie doch zum Facharzt.' Ärzte haben sich schon geweigert, mich zu behandeln, und mich mit Schmerztabletten heimgeschickt."
Christoph Spinner, selbst Professor und Oberarzt, kann die Aussage "gut nachvollziehen", wie er sagt: "Das sind Erfahrungen, die viele Patientinnen Patienten haben. Übrigens gibt es auch bei uns im Haus immer mal wieder einzelne Berichte, und ich glaube, das geht auf die zum Teil in der Allgemeinheit noch bis heute bestehende Angst vor HIV zurück." Spinner nutzt das Thema, um noch einmal klarzustellen: "Menschen, die von ihrer Infektion wissen und erfolgreich behandelt sind, sind ganz sicher nicht infektiös. Das wissen wir heute mit wissenschaftlich sehr guter und qualitativ hochwertiger Evidenz."
Christian sagt, dass er heute ein viel besseres Leben führt als vor seiner Diagnose. Die Beinahe-Begegnungen mit dem Tod hätten ihn viel selbstbewusster gemacht. Er genieße das Leben viel mehr als früher. Aber eines ist ihm wichtig: "Was ich jedem empfehlen kann, der einen positiven Test hat: Sucht euch eine Praxis, wo ihr das Gefühl habt, ihr fühlt euch wohl! Weil es bringt nichts, wenn man jetzt zum Beispiel die Therapie erst mal nicht macht und dann in die Praxis kommt und mit so einem Unterton hört: 'Na, kommt man auch mal wieder?‘"
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